Wählen und Aktivismus
Jede Stimme wirkt, argumentiert die Philosophin Robin Zheng. © picture alliance / dpa / Revierfoto / Revierfoto
Warum es doch auf den Einzelnen ankommt
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Wählen, verzichten, demonstrieren – warum sollte ich das tun, wenn mein Beitrag kaum einen Unterschied macht? Christine Bratu argumentiert für einen Perspektivwechsel: Jede Stimme berge das Potential für echten politischen Wandel.
Und, wertes Publikum, wie geht es Ihnen so an diesem wunderbaren Wahlsonntag? Blicken Sie gerade hoffnungsvoll in die Zukunft oder beschleicht Sie in letzter Zeit auch häufiger ein Gefühl der Ohnmacht? Klimakrise, rechtsradikale Parteien in den Parlamenten (und zum Teil auch: in den Regierungen) vieler liberaler Demokratien, Handelskriege, echte Kriege - wie bitte schön sollen wir all diese Herausforderungen auf einmal meistern?
Und was kann ich als einzelne Bundesbürgerin hierzu beitragen? Mein Stimmzettel wird die Bundestagswahl jedenfalls nicht beeinflussen, um vom Lauf der Dinge gar nicht erst zu reden. Wenn mein Beitrag so verschwindend gering ist, lohnt es sich dann überhaupt von der Couch aufzustehen und Richtung Wahlbüro zu trotten? Oder ist Wählen eine reine Symbolhandlung, mit der wir zwar unser Gutmenschentum performen können, aber mehr auch nicht?
Kontinuierlicher Druck wirkt
Die Philosophin Robin Zheng hat auf solche Zweifel eine gute Antwort parat. Ihrer Ansicht nach beruht diese defätistische Haltung auf einem Bild von politischer Handlungsfähigkeit, das aus einem schlechten Hollywood-Film stammen könnte, so à la: Der mutige Held greift beherzt ein und löscht, ganz alleine und durch eine einzige spektakuläre Aktion, für alle das Feuer. Doch unsere politischen und sozialen Systeme sind viel zu komplex und deswegen zu träge, um für punktuelle Interventionen überhaupt empfänglich zu sein.
Das Einzige, was sie dauerhaft verändern kann, ist kontinuierlicher Druck von möglichst vielen Personen an möglichst vielen Stellen des Systems. Die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare wurde ja schließlich auch nicht von Frank-Walter Steinmeier erstritten, auch wenn er als Bundespräsident 2017 das entsprechende Gesetz unterzeichnet hat, sondern von vielen queeren Bundesbürger:innen in unzähligen kleinen Akten des Widerstands.
Um herauszufinden, ob eine Handlung bloße Symbolpolitik oder lohnenswerter Aktivismus ist, müssen wir also nicht fragen, ob sie für sich genommen den gewünschten politischen Wandel herbeiführen kann. Entscheidend ist vielmehr, ob viele Wiederholungen dieser Handlung, durchgeführt von vielen Personen an vielen Orten, zusammengenommen das gewünschte Ziel erreichen können.
Zheng rät uns also, den Maßstab zu verändern, an dem wir unsere politische Handlungsfähigkeit messen – und ausgehend von diesem neuen Maßstab birgt jeder einzelne abgegebene Wahlzettel das Potential für echten politischen Wandel.
Vermeintliche Ohnmacht als Rechtfertigung fürs Nichtstun
Doch nichts im Leben ist geschenkt, und so ist auch dieser Zuwachs an politischer Handlungsfähigkeit mit gewissen moralischen Kosten verbunden. Denn wenn wir ehrlich sind, hat es manchmal auch seine guten Seiten, sich ohnmächtig zu fühlen. Wenn wir an einer Situation nichts verändern können, sind wir nämlich auch nicht dazu verpflichtet aktiv zu werden und dürfen guten Gewissens auf der Couch sitzen bleiben und uns darauf beschränken, unser Profilbild mit Regenbogenfarben zu unterlegen.
Aus Zhengs Perspektivenwechsel folgt also nicht nur, dass wir politisch wirksam handeln können, sondern auch, dass wir politisch wirksam handeln sollten. Könnte dies nicht zu einer neuen Art der Ohnmacht führen? Heute fühlen wir uns gelähmt, weil wir glauben, nichts verändern zu können – vielleicht werden wir nach Zhengs Perspektivenwechsel davon blockiert, dass uns unser moralisches Über-Ich ständig dazu ermahnt die Heldinnen zu spielen?
Ich denke nicht. Denn Zhengs Punkt ist ja gerade, dass wir für politischen Wandel keine vereinzelten Heldentaten brauchen, sondern viele kleine widerständige Handlungen. Wir müssen also nicht ins Feuer springen, sondern nur beispielsweise wählen gehen. Und das kriegen wir hin!