Buntes über Stalin

Rezensiert von Jörg Friedrich |
Unmenschen sind auch Menschen. Wer diesem Aspekt nachgehen möchte, ihren erotischen Präferenzen und Literaturvorlieben, Frisur, Gesundheit, Kluft, der findet eines der größten Scheusale aller Zeiten nun historiografisch komplettiert.
Josef Stalin, dem die erlauchtesten Dichter und Denker deutscher Zunge ihre Gaben darbrachten - stellvertretend seien Bertolt Brecht, Heinrich Mann und Ernst Bloch genannt - war neben seiner unerreichten Massenmordbilanz sicher das größte politische Genie seiner Epoche.

Um so schlimmer für die Epoche bleibt hinzuzufügen, wenn ein entlaufener Priesterkandidat, langjähriger Bankräuber und Terrorist, 1917 an führender Stelle die 300-jährige Zarendynastie Romanow stürzt, einen Pariastaat errichtet und industrialisiert, der ein Sechstel der Erde umfasst, durch Blutströme hindurch zum Abgott der kritischen Intelligenz und gewaltlustigen Proletarier aller Länder arriviert, seinen fähigen doch realitätsfremden Ex-Partner Hitler erledigt, halb Europa erobert und okkupiert, von seinen Ex-Feinden, dem britischen und US-Imperialismus zu einem Triumvirat der Weltherrschaft gebeten wird und zu guter Letzt, bei seinem Tod 1953, ein Reich hinterlässt, das, wiewohl von seinen ernüchterten Westverbündeten erneut zum Schurkenstaat ausgerufen, sich als unüberwindlich erweisen sollte.

Nach einem flüchtigen Kollaps 1989 hat die Gründung Stalins sich gehäutet zu dem stolzen Doppeladler aus KGB und Gasprom; dem wieder die Meisterdenker huldigen, vom kleinen Gerhard Schröder bis zum großen Alexander Solschenizyn. Väterchen Stalin ist der Caesar Augustus des Reiches gewesen, Sebag Montefiore erzählt, nun in Band 2, die Küchengeschichte dieses Epos. Sie erklärt rein gar nichts, koloriert aber auf das amüsanteste.

Stalin war ein Schürzenjäger und für 13-jährige Bauernmädchen und Schülerinnen trotz seiner Pockennarben und Kleinwüchsigkeit schlechtweg unwiderstehlich:

"In jenem Sommer verbarg sich Stalin in der Wohnung der Allilujews, wo er zum Mittelpunkt des Geschehens wurde. Die drei lebten in intimer Nähe zusammen. Zwischen Stalins und Nadjas Zimmer gab es eine Verbindungstür, und von seinem Bett aus konnte er ihren Frisiertisch sehen.

Stalin ging spielerisch und witzig mit ihren Freundinnen um. Er neckte ihre Angestellte, das Bauernmädchen Panja, und gab allen Spitznamen. 'Wenn er sehr guter Laune war, redete er uns als Jepifani-Mitrofani an: Na, Jepifani, was gibt's Neues. Oder. Oh, was bist du für ein Mitrofani!

Im September, erzählt Anna, brachte Stalin einen kaukasischen Genossen mit heim, stämmig gebaut mit glattem schwarzen Haar. Der psychopathische Draufgänger hatte fünf Jahre im Gefängnis von Charkow verbracht und war durch die Revolution auf freien Fuß gelangt. Er hatte geplant, als vermeintliche Leiche im Sarg zu entkommen, bis er herausfand, dass die Wärter die Schädel jedes Toten, der aus dem Gefängnis herausgebracht wurde, mit einem Hammer einschlugen."

Mindestens so interessant wie Hitlers Aquarelle ist Stalins Lyrik, in Georgien hochgeschätzt und hier zum ersten Mal im Deutschen lesbar:

"AN DEN MOND
Beweg dich unermüdlich
Lass den Kopf nicht hängen
Zerstreu der Wolken Nebel
Des Herrn Fürsorge ist groß"

Wenn der junge Stalin den Finanzbedarf der Partei mit seriellen Banküberfällen deckt, erfreut Sebag Montefiore mit thrillermäßiger Anschaulichkeit:

"Auf dem Höhepunkt wurden die Revolverheldinnen Anetta, Pazija und Alexandra in eine wilde Schießerei verwickelt. Die Mädchen schnappten sich die Geldsäcke, die sie dann in ihrer Unterwäsche nach Tiflis schmuggelten. 'Anetta und ich wickelten sie uns um den Körper', erinnert sich Alexandra, Kamo versteckte das Geld dann in Weinschläuchen und schickte es zu Lenin nach Finnland'."

Parteienfinanzierung ist bis heute bekanntlich nur schwer an die Legalität zu gewöhnen!

Vollends ulkig ist die Verkleidungskunst Stalins gewesen, die ihm später half, als bäriger 'Uncle Joe' ganz Amerika zu narren, so wie 40 Jahre zuvor die russische Polizei, in Frauenkleider gewickelt, perfekt wie Charley's Tante! Den Rezensenten hat am meisten das Agenten-Biotop amüsiert, in dem sich Geheimpolizei und Staatsfeinde wechselseitig belauern, unterwandern, provozieren und korrumpieren. Es ist wie Bundesverfassungsschutz und NPD-Vorstand. Nicht auseinanderzuhalten!

Man muss wissen, dass die russischen Kommunisten als eine noch weit lächerlichere Sekte starteten als die NPD oder die NSDAP. Was diesen Haufen zänkischer Intellektueller, blutrünstiger Oberschichtensöhne und instinktsicherer Banditen zu ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung führte, ist diesem erstklassigen Unterhaltungsbuch nicht zu entnehmen.

Der Autor verweist im Vorwort mit entwaffnender Freimütigkeit auf die reiche Standardliteratur zu dem eigentlich interessanten Thema hin, nebenbei - kein deutscher Historiker findet sich darunter. Immerhin hat sich der Rowohlt-Verlag vor Jahren des überaus kundigen, allerdings arg parteiischen Richard Pipes angenommen. Er empfiehlt sich als Pflichtlektüre, bevor man sich den hübschen Bettgeschichten und Räuberpistolen Montefiores zuwendet.

Er fördert viel Buntes und einiges Wissenswerte zu Tage, weiß herrlich Personen zu skizzieren und kaukasische Milieus zu malen. Dabei scheint die Recherche solide und transparent. Sebag flunkert nicht, weiß alles, erzählt seinen eng gefassten Stoff aber komischer als der trockene Anton Joachimsthaler, der Hitlers Intimitäten erforscht hat.

Das Werk über die 90-jährigen Häutungen des kommunistischen Verbrecherstaats ist einstweilen ungeschrieben. All die Verkleidungsspiele und Perücken, Dämonenmasken, Schminken und Scharaden, Läuterungen und Kontinuitäten täuschen unsere Blicke.

Irgendwann wird der ausreichende Abstand erlauben, Stalins Wirken und Nachwirken angemessen zu Papier zu bringen. Bis dahin steht nur eines fest: Einem gut geführten Verbrecherstaat, der sich nicht militärisch schlagen lässt, steht eine Weltkarriere offen.


Simon Sebag Montefiore: Der Junge Stalin
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2007