Burak Caniperk braucht nicht viele Worte, um klar zu machen, dass es in seinem jüngst erschienenen Buch nicht um Kuschelpädagogik geht: „Ich arbeite nicht in einem Streichelzoo, sondern in einem ziemlich harten und schwierigen Stadtteil von Berlin.“
Nord-Schöneberg heißt der Kiez, in dem Caniperk als Streetworker unterwegs ist. Täglich streift er hier mit Kollegen durch die Straßen, spricht Jugendliche an, die in Parks und auf Plätzen rumlungern. Wer ihn dabei lesend begleitet, findet zunächst einmal eine ganze Reihe gesellschaftlicher Klischees bestätigt: Viele der Jugendlichen, mit denen Caniperk arbeitet, haben einen Migrationshintergrund, was allerdings – wie er immer wieder betont – nicht der Grund für ihr Auftreten ist. Viele sind männlich, viele nehmen Drogen oder sind kriminell.
Viele der Jugendlichen, mit denen ich zu tun habe, haben schon einmal eine Gewalttat begangen, waren in eine Schlägerei verwickelt oder haben sogar ein Messer gezogen und es vielleicht auch benutzt. Das sind Dinge, die oft mit der Zugehörigkeit zu Gruppen zu tun haben und der Dynamik, die sich daran entwickelt. Und mit dem Rumhängen auf der Straße, mit Raum- und Perspektivlosigkeit, mit Konflikten, die sich zuspitzen und eskalieren. Eine Rolle spielen dabei jedoch auch Drogen und falsche, weil für die Jugendlichen schlechte Männlichkeitsbilder.
All das ist aus zahlreichen Medienberichten bekannt. Aber Burak Caniperks Arbeit ebenso wie seine Beschreibungen hören an dieser Stelle nicht auf. Als jemand, der täglich mit den Jugendlichen in Kontakt ist, weiß er, dass sie fast immer auch eine andere Seite haben. Und die gelte es zu stärken.
Einerseits dieser kriminelle Scheiß, und auf der anderen Seite sind sie häufig so höflich und liebenswürdig, so fürsorglich gegenüber Menschen, die ohne Ablehnung auf Augenhöhe mit ihnen umgehen. Das ist total paradox. Die leihen sich mit ihrem Drogengeld ein Auto, um die kranke alte Nachbarin damit zum Arzt zu fahren. Oder sie gehen für sie einkaufen.
Diese Dinge erfährt nur, wer sich mit den Jugendlichen auseinandersetzt, sie kennenlernt, ihnen zuhört. Burak Caniperk, Sohn türkischer Einwanderer, tut nicht nur genau das, er spricht dabei auch ihre Sprache – im sozialen, nicht unbedingt im linguistischen Sinne.
Ich kenne das. Ich habe selbst solche Sachen als Jugendlicher erlebt, ich hing mit meinen Jungs auf der Straße rum und habe zugekifft Scheiße gebaut mit meinen Kumpels. Davon erzähle ich ihnen heute auch.
Was er dabei auch erzählt, ist, wie er es rausgeschafft hat aus diesem Kreislauf aus Armut, Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit, den er immer wieder beobachtet. Wie er es nach dem schlechten Hauptschulabschluss irgendwann doch noch zu einer Ausbildung, später an die Uni und zuletzt gar auf die Frankfurter Buchmesse schaffte. Wie er eine Vision für sein Leben entwickelte, einen Sinn fand.
Der Alltag ist brutal
Wenn der 31-Jährige aus seinem beruflichen Alltag erzählt, dann klingt das oft brutal, oft aber auch fast zu schön, um wahr zu sein. So etwa, wenn er mit zuvor völlig antriebslosen Jugendlichen Praktikumsplätze sucht, Obdachlose begleitet, Kriminelle zum Umdenken bewegt. Immer mit dem zugrundeliegenden Ansatz, den Jugendlichen auf Augenhöhe zu begegnen.
Viele der Jugendlichen wissen gar nicht, dass sie etwas können. Sie wissen einfach nicht, was sie draufhaben (…). Denn Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und gute Erfahrungen mit Selbstwirksamkeit haben die meisten Jugendlichen meistens weniger, als es manchmal den Anschein hat, wenn man sieht, wie sie sich in der Öffentlichkeit, auf den Straßen und Plätzen oder in Bus und U-Bahn benehmen.
Und so öffnet Burak Caniperk immer wieder eine Tür, wo selbst Eltern, Lehrkräfte oder Jugendrichter längst keine mehr vermutet hätten. Menschen wie ihn, so denkt man beim Lesen, müsste es in jedem Kiez geben, in jeder Nachbarschaft, in jeder Großstadt. Dann würde es schon klappen mit der Jugend.
Sozialarbeiter als "Feuerwehr"
Aber die Realität sieht anders aus. Die Jugendsozialarbeit gehört häufig zu den ersten Bereichen, an denen gespart wird, wenn das Geld knapp ist. Wenig verwunderlich, dass Caniperk das in seinem Buch scharf kritisiert. Ebenso wie die Erwartung, dass Sozialarbeiter wie die Feuerwehr einspringen sollen, wenn die Situation mal wieder eskaliert. Stichwort Silvester 2023: Caniperks verständnisvoller Ton wird an solchen Stellen wütend. Auch frustriert. Aufgeben will er trotzdem nicht.
Selbst wenn ich nicht nur manchmal denke, dass unsere Arbeit mehr Wertschätzung und bessere Bezahlung verdient hätte: Würde mir jemand 10.000 Euro anbieten, damit ich etwas anderes mache, würde ich Nein sagen. Warum? Weil meine Arbeit sinnvoll und wichtig ist. (…) Das liegt vor allem daran, dass ich so sehr daran glaube, dass jeder eine Chance auf ein gutes Leben verdient hat und bekommen muss.