"Er war ein sehr seltsamer Dichter"
Leonard Cohen hat als Autor begonnen. Allerdings habe er schnell erkannt, dass er mit Lyrik kein großes Publikum erreichen würde, so Schriftsteller Burkhard Spinnen. Was den Transfer von Dichtung in Musik angeht, sei er bedeutender als Bob Dylan.
Joachim Scholl: In seiner Geburtsstadt Montreal wehen die Fahnen auf Halbmast. Der Bürgermeister selbst hat das verfügt, um den großen Sohn der Stadt Leonard Cohen zu würdigen. In der Nacht ist der Künstler gestorben. Weltberühmt wurde er als Sänger, dabei hat er als Schriftsteller begonnen, war erfolgreich mit Gedichten und Romanen, in den 1960er-Jahren vor allem. Am Telefon begrüße ich jetzt den Schriftsteller Burkhard Spinnen, der schon früh auf dieses literarische Talent des Leonard Cohen aufmerksam gemacht hat. Guten Morgen, Herr Spinnen!
Burkhard Spinnen: Guten Morgen!
Scholl: Was war Leonard Cohen für ein Dichter?
Spinnen: Er war ein sehr seltsamer Dichter, auf den wir – nur Dichter – eigentlich sehr zwiespältig schauen müssen, denn er war ein ambitionierter, engagierter Schriftsteller, keineswegs ein Mann, der auf schnelle Unterhaltung setzte, der aber erkannte – sehr früh schon, in den 50er-Jahren – oder glaubte, zu erkennen, dass eine bestimmte Art von Literatur, vor allen Dingen die Lyrik, die bis in die Vorkriegszeit hinein ein teilweise großes Publikum hatte, es mittlerweile sehr, sehr schwer hatte, sich über einen ganz kleinen Kreis von Insidern zu verbreiten.
Lyrik transferiert in populäre Musik
Und er hat so ungefähr im Alter von 30 eine ungeheure Konsequenz daraus gezogen, indem er sich gesagt hat, nein, ich muss das singen, um Leute zu erreichen, und – sehr profan klingend – ich muss das singen, um damit meinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Das hat er dann gemacht. Das war zunächst ein, wie er später mal sagte, begrenztes Projekt, aber er ist dabei geblieben. Und er hat gewissermaßen, und das ist sehr auf seine Person und auf seine Arbeit zugeschnitten, er hat eine bestimmte Art von europäischer Lyrik des 20. Jahrhunderts in die Musik, in auch eine teilweise sehr populäre Musik, transferiert.
Scholl: Nun ist in den letzten Wochen öfter Vergleich gezogen worden zu Bob Dylan, Stichwort Literaturnobelpreis, und verschiedentlich wurde angemerkt, eigentlich hätte Leonard Cohen ihn mehr verdient, weil er mehr Schriftsteller sei. Würden Sie sich dieser Meinung anschließen, Herr Spinnen?
Spinnen: Sie hören mich mit den Zähnen knirschen. Als ich in den letzten Tagen gefragt worden bin, was ich zum Literaturnobelpreis für Dylan halte, hab ich immer gesagt, ja, prima, aber hätte man ihn nicht vielleicht ausnahmsweise zwei-, dreimal teilen können und einer ganzen Gruppe von Musikern, die für diese Entwicklung steht, ihn geben können. Er ist wahrscheinlich, was diesen Transfer der Lyrik in die Musik angeht, wichtiger und bedeutender als Dylan. Dagegen steht natürlich Dylans noch ungeheuer viel stärkere Verbreitung.
Scholl: Ich kann mich erinnern, wie in meiner Jugend, in den 70er-Jahren, in jedem Räucherstäbchen-geschwängerten Jugendzimmer Leonard Cohens Album "Love and Hate" lief, mit dem berühmten Song "Suzanne", und damals schrieben, glaube ich, amerikanische Kritiker, dieses Album, da sollte man Rasierklingen mitliefern, weil es irgendwie sowieso zum Selbstmord aufrufen würde. Und ich kann mich erinnern, Herr Spinnen, dass wir damals schon sozusagen literaturexegetisch gerätselt haben, wer jetzt denn diese Suzanne ist und was es mit diesen oft dunklen Zeilen auf sich hat.
Also diese literarische Qualität oder diese, ja, Sie sagten schon, Poesie, Tradition des 20. Jahrhunderts, europäische Tradition, wie würden Sie das charakterisieren, wo kommt das her?
Spinnen: Es kommt einfach daher, dass Lyrik geballt auf wenigen Zeilen versucht, über, sagen wir, die reine Kommunikationsfunktion von Sprache hinauszugehen, also nicht zu sagen, wie in diesen Boy-meets-Girl-, Herz-und-Schmerz-Liedern, ach, ich hab dich getroffen und du willst mich nicht, jetzt bin ich aber traurig und so weiter, sondern sie versucht, Beziehungen zwischen Menschen tiefer auszuloten, und sie belastet dabei die Sprache mehr. Das heißt, es geht nicht um Aussage von Gefühlszuständen, sondern es geht um den Versuch einer Darstellung von ganz individuellen Gefühlszuständen in ganz individueller Sprache. Und das heißt natürlich für den Zuhörer, der kriegt keine Gebrauchsanweisung für den mentalen Zustand dessen, der sich hier äußert, sondern er bekommt diesen Zustand in Reinform.
Songtexte zum Entschlüsseln
Das heißt allerdings, er muss ihn entschlüsseln, er muss ihn für sich interpretieren. Das war das Neue in den Songtexten in dieser Generation, dass man das nicht eins zu eins so übernehmen und in zwei, drei inhalts-, aussagemäßige Sätze verwandeln konnte, sondern dass man es immer wieder hören musste, was ja durch die Musik auch angeregt wurde, und immer wieder neu darüber nachdenken konnte, durfte, aber auch musste, was es denn bedeutete.
Und gerade so ein Song wie "Suzanne", der ja, ich weiß nicht, Dutzende, vielleicht Hunderte Male gecovert worden ist, wo auch die musikalische Interpretation sich immer wieder verändert hat, der spielt ganz beispielhaft für diese Art von Musik, die natürlich dann eben auch eine ganz andere Rezeption verlangte – Sie sagten es jetzt mal, Räucherstäbchen, ich nehm das mal so als Metapher für stille Introvertiertheit, Konzentration und nicht Elvis-Presley-Konzert.
Scholl: In memoriam Leonard Cohen. Der Künstler, der Sänger, der Schriftsteller ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Das war der Schriftsteller Burkhard Spinnen. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Spinnen!
Spinnen: Danke Ihnen!
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