Buschkowsky: Sarrazin verallgemeinert zu stark

Heinz Buschkowsky im Gespräch mit Joachim Scholl |
Der Bürgermeister des Berliner Stadtbezirks Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), hat Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin vorgeworfen, in seinen umstrittenen Thesen zur Migration in Deutschland zu stark zu verallgemeinern.
Joachim Scholl: "Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch oder arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzins bestimmt wird. Wenn ich das erleben will, kann ich eine Urlaubsreise ins Morgenland buchen."

Für solche Sätze ist er inzwischen bekannt, und dieser gerade stammt aus dem Buch "Deutschland schafft sich ab", das am kommenden Montag erscheint – Thilo Sarrazin, Ex-Finanzsenator in Berlin, Vorstandsmitglied der Bundesbank und SPD-Mitglied, haut wieder ordentlich drauf in Sachen Integration, Migration, Bildung. Und er blickt dabei vor allem auf Verhältnisse, wie er sie in seiner Berliner Zeit im Bezirk Neukölln verfolgt hat, der Bezirk, der mittlerweile bundesweite Referenz für Migrationsprobleme ist. Bürgermeister des Bezirks von Neukölln ist Heinz Buschkowsky, er ist jetzt am Telefon. Guten Tag!

Heinz Buschkowsky: Hallo, guten Tag!

Scholl: Zurzeit kann man Thilo Sarrazins Thesen und Analysen tagtäglich in der "Bild"-Zeitung lesen, Herr Buschkowsky. Wie geht es Ihnen damit? Schütteln Sie beim Lesen eher den Kopf oder nicken Sie zustimmend?

Buschkowsky: Na ja, ich beneide ihn schon ein bisschen, ja, um die Publicity, die er im Moment hat, würde ich mir auch manchmal wünschen, weil es ist ja nicht zu bestreiten, dass die Zuwanderung und die Migration in Deutschland auch mit Problemen verknüpft ist, und dass wir Stadtlagen haben durch die ganze Bundesrepublik, die den Stadtvätern Sorgen machen, mir auch in Neukölln.

Scholl: Aber er tut ja gerade so, auch in seinen Äußerungen, als ob er der Einzige sei, der hier aufmerksam macht. Ich meine, über diese Kontroverse … ja, die gibt es seit Jahren und über nichts wird glaube ich, ja, offener auch diskutiert, oder?

Buschkowsky: Ja, intensiv, also wenn ich mich erinnere, wie mit diesem Thema noch in den 90er-Jahren umgegangen wurde, und dass es heute doch breiten Raum in der gesellschaftlichen Diskussion einnimmt, dann sind wir da schon ein Stück weiter, wenn wir auch noch zwar kein Erkenntnismangel mehr haben, aber ein Handlungsdefizit. Mir fehlen ein bisschen die konkreten Taten, um an die Probleme ranzukommen, die ja nicht zu bestreiten sind.

Scholl: Wir haben gestern im Deutschlandradio Kultur Thilo Sarrazin selbst gesprochen, und er hat in diesem Interview auch die Einstellung der muslimischen Migranten zu Deutschland kritisiert. Hören wir uns das mal zusammen an.

Thilo Sarrazin: 78 Prozent der türkischen Mitbürger fühlen sich nicht von Angela Merkel als Bundeskanzlerin vertreten. Ein Großteil der also muslimischen Migranten, die bei uns leben, mag einen deutschen Pass haben, er fühlt sich aber nicht als Deutscher, sondern man müsste eigentlich sagen, Inhaber eines deutschen Passes. Das ist richtig. Wir müssen die Menschen, die bei uns leben, denen müssen wir alle Chancen geben, sich zu integrieren, wir müssen diese Chancen aber auch mit einem kräftigen Aufforderungscharakter verbinden.

Scholl: Thilo Sarrazin im Interview mit Deutschlandradio Kultur, und wir sind im Gespräch mit Heinz Buschkowsky, dem Bürgermeister von Neukölln, jenem sogenannten Problembezirk in Berlin, der immer herhalten muss, wenn es in Sachen Migration und Integration schwierig wird oder schiefläuft. Erleben Sie das auch so, Herr Buschkowsky, wie es eben Thilo Sarrazin formuliert hat, dass ein Großteil der Migranten, wie er es nennt, sogar sich nicht als deutscher fühlt?

Buschkowsky: Also eine Schwäche an dem Buch und an den Thesen von Sarrazin ist, dass er mir zu stark verallgemeinert. Er spricht einerseits immer von den Muslimen, das ist erst mal einfach falsch, und verschreckt und verletzt viele Menschen. Wir wissen, wir haben Schiiten, wir haben Sunniten, wir haben Aleviten, die bei uns sind, und die alevitische Lebensweise ist geprägt von Gewaltfreiheit, von Ächtung von Gewalt und von der Gleichheit der Geschlechter. Und wenn Menschen, die gläubige Muslime sind, aber Aleviten, wenn sie lesen, in welchen Topf sie geschmissen werden, dann macht die das nicht fröhlich. Und so ist es auch ein bisschen mit der Migrantengesellschaft.

Sehen Sie, die Probleme, die er benennt, die gibt es, keine Frage. Wir haben Parallelgesellschaften, wir haben Bildungsferne, wir haben Menschen, die sich im Sozialsystem eingerichtet haben, und wir haben Menschen, die das Sozialsystem als Lebensgrundlage benutzen und "Scheißdeutsche" sagen. Das gibt es alles, gar keine Frage. Aber es dann, ich sage mal, so als eine Art Makel allen Zuwanderern anzukleben, das halte ich eben für falsch. Sehen Sie, mein Fahrer ist türkischer Abstammung, in meinem Rathaus habe ich türkischstämmige, deutsche Beamte, also das ist schon ein bisschen differenzierter, und ich würde einfach Thilo nur wünschen, dass er das einfach auch berücksichtigt

Ja, es gibt Probleme, ja, wir müssen sie angehen, aber bitte nicht in der Art und Weise, dass wir alle die, die wir als Mitstreiter brauchen, nämlich die Integrierten, dass wir die verprellen.

Scholl: Thilo Sarrazin verknüpft die mangelnde Integration stets mit der Bildungsfrage. Also: Geringe Integrationsbereitschaft führt zu mangelndem Engagement in der Schule, die Folge ist schlechte oder keine Ausbildung, ergo Belastung für Deutschland und den Steuerzahler. Stimmt diese Gleichung in Ihren Beobachtungen überhaupt?

Buschkowsky: Natürlich ist … Na ja, der Fehler, den Thilo Sarrazin macht, ist, dass Bildungsferne vererbt wird, und das ist einfach falsch. Richtig ist natürlich, dass wenn beide Elternteile Analphabeten sind, dass sie dem Kind nicht beim Pythagoras helfen können, das ist doch selbstverständlich. Also muss die Gesellschaft sehen, wie sie diese Bildungsdefizite bei den Kindern ausgleicht. Ist unser Bildungssystem darauf ausgerichtet, Kinder so zu begleiten, dass sie auch zur Integrationsinstanz und zur Sozialisationsinstanz werden? Nein. Unser Bildungssystem wird mit dieser Aufgabe nicht fertig. Nirgendwo ist die Stellung der Eltern so entscheidend für den Lebensweg der Kinder wie in Deutschland. Da haben wir echt noch Hausaufgaben zu machen.

Das andere ist einfach, er fordert ja selbst in seinem Buch Kindergartenpflicht, Ganztagsschule, er fordert selbst Durchsetzen der Schulpflicht. Das ist ja richtig, also ist ja seine Ausgangsthese zu "Deutschland schafft sich ab": Die Gesellschaft wird sich linear fortentwickeln, es wird alles so bleiben wie es ist, und in 100 Jahren wird die Bildungsferne alle gebildeten Menschen überrollt haben. Ist sie falsch. Die menschliche Gesellschaft entwickelt sich nicht linear, weil sonst wäre nämlich Karl Marx bestätigt worden. Die Massen sind nicht verelendet, weil es eine Sozialistengesetzgebung gab, die Kinderarbeit wurde abgeschafft und das Bildungssystem auch auf die Proletarierkinder ausgerichtet.

Die deutsche Gesellschaft ist nicht so dumm, dass sie 100 Jahre so weitermacht wie bisher. Das war falsch, das war zu weicheimäßig, sondern es wird etwas passieren und die Gesellschaft wird sich anders gestalten und engagierter gestalten. Und deswegen wird es nicht so kommen, wie Thilo Sarrazin es prophezeit. Dass unser Sozialsystem natürlich auch Verlockungen hat, wissen Sie, das weiß ich schon als junger Inspektor in den 60er-Jahren im Sozialamt in Deutschland, und da hatten wir noch nicht einen Gastarbeiter in Neukölln

Scholl: Der integrationspolitische Sprecher der Berliner SPD, Raed Saleh, sieht in Sarrazins Äußerungen sogar rechtsextremes Gedankengut. Heute früh hat Herr Saleh das in unserem Programm so konkretisiert:

Raed Saleh:: Wenn es Defizite gibt, muss man sie ansprechen, aber ich sage mal eins: Man braucht eine Diskussion, die hilfreich ist, und Rassismus und Intoleranz – und ich sage mal auch, im Grunde genommen Sozialdarwinismus – hilft in der Debatte nicht weiter. Dr. Sarrazin vertritt im Grunde Gedanken der NPD oder von Pro Deutschland, nicht mehr und nicht weniger.

Scholl: Raed Saleh, der integrationspolitische Sprecher bei der Berliner SPD heute früh in unserem Programm. Die Partei, Herr Buschkowski, wollte Thilo Sarrazin ja schon mal rausschmeißen. Die Forderung wird jetzt wieder laut. Was meinen Sie denn als Parteifreund, ist Thilo Sarrazin inzwischen eigentlich fehl am Platze in der SPD, oder braucht die Partei ihn sogar, was meinen Sie?

Buschkowsky: Also früher sagte man ja, von der Bergpredigt bis zum Kapital kann jeder seine Heimat in der SPD finden. Damit meine ich: Eine Volkspartei muss unbequeme, ja, auch lästige Meinungen in sich dulden, muss sich streitbar mit ihnen auseinandersetzen. Wenn ich jedes Mal Themen und Diskussionen oder auch Thesen, die mir nicht passen, die unangenehm sind, ja, die mich auch verletzen, aus der Partei schmeiße, also mich jedes Mal rundlutsche und glattbügle, dann werde ich konturenlos als Volkspartei, und ich schaffe damit die Alternativen.

Schauen Sie, was ist in Österreich passiert? Es gab plötzlich eine FPÖ und einen Herrn Haider. Was ist in den Niederlanden passiert? Es gibt plötzlich Herrn Wilders, ohne den nicht mehr regiert werden kann, und eine VVD. Wir können auch Menschen, die, ja, auch geprägt sind von Überfremdungsangst immer wegdrücken und sagen: Geh zu Pro Deutschland, geh zur NPD, irgendwann werden ihnen viele in der Wahlkabine folgen, dann wird jeder sagen: Wie konnte das passieren? Man muss sich mit diesen Dingen auseinandersetzen.

Und es ist so: Wo Zuwanderung ist, gibt es Überfremdungsangst, und wo Zuwanderung ist, gibt es auch Fehlentwicklungen und Stolpersteine. Da müssen wir eben halt durch, das ist unbequem, und ich sage Ihnen: Es gibt viel zu tun auf diesem Gebiet, als jemand, der Bürgermeister ist in einem Gebiet, wo es Parallelgesellschaften gibt, und wo es auch Dinge gibt, wo ich sage, die die Welt nicht braucht. Wer sich in eine andere Kultur begibt, muss wissen, dass es dort andere Spielregeln gibt und muss entscheiden, ob die für das eigene Leben passen oder nicht. Und wer sagt, ich gehe dahin und setze mich in den Sessel nach dem Motto, ist hier schön, bespiel mich mal, na ja, da muss eine Gesellschaft dann auch mal intervenieren, insbesondere bei den Kindern.

Scholl: Heinz Buschowsky, er ist Bürgermeister im Berliner Bezirk Neukölln. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Buschkowsky, einen schönen Tag Ihnen noch!

Buschkowsky: Danke, wünsche ich Ihnen auch!
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