Byung-Chul Han: "Palliativgesellschaft. Schmerz heute"
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2020
87 Seiten, 10 Euro
Schmerzlich dünne Thesen
06:47 Minuten
Byung-Chul Han wird von manchem Feuilleton als "Stardenker" unserer Gegenwart gefeiert. In seinem jüngsten Buch "Palliativgesellschaft" kritisiert er unseren Umgang mit Schmerz. Ein spannendes Thema, wäre es nur überzeugend umgesetzt.
"Palliativ", das heißt schmerzlindernd, und so verrät der Titel dieser kleinen Schrift auch die unschwer zu erratende These: Wir leben in einer Kultur, die durch und durch auf Schmerzvermeidung aus ist. Bloß nicht zu viel fühlen. "Heute herrscht überall eine Algophobie eine generalisierte Angst vor Schmerzen", so schreibt Byung-Chul Han.
Liebesschmerz unter Verdacht
"Auch die Schmerztoleranz sinkt rapide", so Han weiter. "Die Algophobie hat eine Daueranästhesierung zur Folge. Jeder schmerzhafte Zustand wird vermieden. Verdächtig sind inzwischen auch Liebesschmerzen."
In der Konsumgesellschaft sei alles nur aufs Positive getrimmt, denn Schmerz und Kommerz schließen einander aus, meint Han und untermauert seine These mit süffigen Formulierungen: Von "Dauerwohlfühl-Ideologie" ist da die Rede, von einer "Gefälligkeitskultur" der Likes und Smileys, von einem "neoliberalen Glücksdispositiv".
Starke Thesen im luftleeren Raum
Was ist von solch starken Thesen zu halten? Thomas Macho, allseits bewanderter Kulturhistoriker, hat für diesen Stil nur ein Wort, "Behauptungsprosa": "Diese Behauptungsprosa hat den großen Nachteil, dass sie viele Fragen im Leser, in der Leserin aufwirft, die dann nicht beantwortet werden. Nämlich zum Beispiel, ob die Diagnose der schmerzfreien Gesellschaft für unsere Welt gilt, ob sie für Teile Europas gilt, ob sie nur den Westen betrifft und zum Beispiel Afrika oder andere Kontinente gar nicht, ob sie, wenn die historischen Epochen in Betracht gezogen werden, für die Gegenwart geltend gemacht werden kann oder ob man diesen Vorwurf auch schon den Ärzten machen müsste, die Antibiotika angewendet haben und erforscht haben, all das bleibt eigentlich unklar."
Klar dagegen bleibt die Aussage, die Byung-Chul Han in allerlei Varianten beharrlich wiederholt: Während in der mittelalterlichen Gesellschaft der Marter – oder auch in der neuzeitlichen Disziplinargesellschaft – der erlittene Schmerz zu einer Art Widerstand führte, verkleistere in der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft das Dogma des "sei positiv" alle Sinne.
Schlecht gelaunte Diagnose
Wir seien zu egozentrischen Sklaven einer stetig sich steigernden Selbstoptimierung geworden, schreibt Han. In dieser dauerhaften Selbstaffirmation gehe jedoch – philosophisch gesprochen – jede Form von Negativität verloren und damit auch die Fähigkeit zu Kritik und die Fähigkeit, sich auf andere einlassen zu können.
Historisch ist diese schlecht gelaunte Diagnose wenig plausibel, gibt Thomas Macho zu bedenken. Techniken zur Linderung des Schmerzes, auch Techniken zur Führung des Selbst, kennen wir schließlich seit der Antike. Schlimmer ist aber, dass Byung-Chul Han es mit der Negation selbst nicht so genau nimmt. An manchen Stellen werte Han das, was eigentlich ein Gegenargument sein könnte, als Beleg, so Macho.
Zum Beispiel, dass es Schmerzkulte auch in unserer Gesellschaft gibt. "Sich zu ritzen oder sich Schmerzen zuzufügen, auch in sadomasochistischen Sexualpraktiken, das sind ja inzwischen, könnte man sagen, salonfähig gewordene Praktiken", sagt Macho.
Gegenargumente dienen als Belege
"Nun wertet Han das aber nicht als mögliche Frage, als mögliche Relativierung seiner Hauptthese, sondern als Beleg. Man könnte hier einfach mehr Fragen stellen und würde dann vielleicht ein sehr interessantes Forschungsfeld öffnen, während wir an dieser Stelle das Gefühl haben, alles belegt und unterstützt die Hauptthese, die dadurch aber immer hohler und leerer wird."
Wo der Autor einem interessanten Phänomen auf der Spur sein könnte, hämmert er es gleich mit dem nächsten Thesen-Kalauer nieder: "Die Welt ohne Schmerz ist eine Hölle des Gleichen", heißt es dann im Text, "Digitalisierung ist Anästhesierung" oder "Der Heroismus weicht überall dem Hedonismus."
Vielleicht ist diese Grobschlächtigkeit im Argumentieren, der Verzicht auf jedwede Begründung ja eine bewusst eingesetzte Methode? Könnte man das Ganze als eine Art Meditation verstehen? Nein, findet Thomas Macho, auch für eine Meditation sei das hier alles viel zu unpräzise, er vermutet, Byung Chul Han habe schlichtweg zu viel Heidegger gelesen.
Denken im Lockdown: Adorno für Dumme
Natürlich darf auch das Coronavirus nicht fehlen in Byung-Chul Hans Rundumschlag. Der "schönste" Satz im Buch ist folgender: "Das neoliberale Arbeitslager in Zeiten der Pandemie heißt 'Homeoffice'." Geringschätzig schaut Han auf eine Gesellschaft herab, die aufs bloße Überleben abziele und dabei das Leben verliere. Zudem sagt er uns ein biopolitisches Überwachungsregime voraus.
Vielleicht ist ja einiges sogar richtig an diesen Kassandrarufen, aber was will uns Han eigentlich sagen? Der Gestus der Anklage wird zum Selbstläufer, Byung-Chul Hans Texte wirken wie Adorno für Dumme, und wir dürfen uns als postheroische Weicheier fühlen, die in der "palliativen Komfortzone" herumlungern und zivilisatorische Errungenschaften einem kleinen Virus opfern.
Was ist eigentlich so schlecht daran, Schmerz zu vermeiden? Nichts, meint Thomas Macho: "Nein, es ist nicht schlimm, wenn's weniger Schmerz gibt und es ist so, dass wir Menschen in der Gegenwart einander noch so viel Schmerz zufügen, dass man an diesen Verhältnissen was ändern müsste und nicht den Menschen einreden müsste, wie es noch bei Ernst Jünger zumindest dazugehört, dass das Erleiden von Schmerz auch zum heroischen Ideal des männlichen Soldaten dazu gehört."