C. F. Ramuz: "Derborence"
Aus dem Französischen von Hanno Helbling
Limmat Verlag, Zürich 2021
200 Seiten, 24 Euro
Der Berg stürzt ein
05:30 Minuten
Die Männer des Dorfes treiben wie jedes Jahr das Vieh auf die Sommerweide Derborence am Fuße der Diablerets, der "Teufelsberge". Dann begräbt ein gewaltiger Bergsturz die Alp. Ein Klassiker, hervorragend übersetzt von Hanno Helbling.
In der Studie "Masse und Macht" bezeichnet Elias Canetti die Berge als Schweizer Massensymbol. Sie schützen, schreibt er, die Schweizer vor jedem Feind, sie "flößen ihnen Sicherheit ein". Bei Ramuz lernen wir, dass sie auch eine verhängnisvolle Seite haben.
Der junge Antoine, frisch verheiratet mit Thérèse, geht mit seinem Schwiegeronkel Séraphin und anderen Männern des Dorfs auf die Alp Derborence. Eine Woche nach ihrer Ankunft, in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni, stürzt der Berg auf sie hernieder.
Die Leute im Dorf glauben alle tot – bis knapp zwei Monate später eine verwirrte, abgemagerte Gestalt im Dorf auftaucht, die die meisten für einen Wiedergänger halten.
Der Entkräftete steigt wieder auf den Berg
Alle außer Thérèse. Sie ist sicher, dass es sich um ihren Mann Antoine handelt. Sie wird mit ihrer Intuition Recht behalten – und doch ihren Liebsten sogleich wieder verlieren. Denn der noch entkräftete Antoine steigt wieder hinauf in das Chaos aus Steinen und Felsbrocken und macht sich auf die Suche nach Séraphin. Trotz aller Warnungen geht Thérèse ihm hinterher.
Charles Ferdinand Ramuz aus Lausanne (1878-1947) ist sicher noch vor Jacques Chessex der bedeutendste französisch schreibende Autor der Schweiz. Obwohl er als "Enkel von Winzern und Bauern den einfachen Leuten Ausdruck geben" wollte und seine Romane vor allem auf dem Land und in den Bergen spielen, ist sein Stil absolut modern.
Thérèse erfährt, dass sie schwanger ist
Die auffällig zahlreichen Vergleiche kommen aus der unmittelbaren Umwelt des Romans. Sein Kennzeichen ist eine scheinbar kunstlose, eingefühlte, lebendige Sprache: "Ah, das dauert!, ah, das zieht sich! Erst acht Tage ist er fort, aber acht Tage sind wie acht Monate", denkt Thérèse.
In derselben Nacht, als man im Dorf das ferne Gepolter des Bergsturzes für ein Gewitter hält, erfährt sie, dass sie schwanger ist. Die Katastrophe selbst wird sowohl aus der Sicht von Antoine droben auf Derborence als auch von Thérèse unten im Dorf geschildert.
Eine archaische Welt
Immer spielt das Unwirkliche, Übernatürliche bei Ramuz eine tragende Rolle, wirkt aber stets glaubhaft, weil es zu dieser archaischen Welt gehört. Erst am Ende des Romans erfährt man, dass hier von einem historischen Ereignis erzählt wird, das sich im Jahr 1749 zugetragen hat.
Überragend ist die Übersetzung von Hanno Helbling, die den verzweifelten Kampf der beiden jungen Eheleute, die knarzige Poesie, das Berührende, aber nie Sentimentale einfängt. So könnte Ramuz auf Deutsch geschrieben haben.