C. L. Skach: „Demokratie ohne Gesetze“

Der Bürger soll es richten

07:03 Minuten
Auf dem Cover des Buches sind der Name der Autorin, Titel und Untertitel zu lesen.
© Ullstein

Skach, C. L.

übersetzt von Lingner, Oliver

Demokratie ohne Gesetze: Warum nicht Regeln, sondern wir selbst unsere Gesellschaft tragenUllstein, Berlin 2024

256 Seiten

24,99 Euro

Von Peggy Fiebig |
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Demokratien brauchen Gesetze, ohne sie drohen Willkür und Chaos. Die Juristin C. L. Skach glaubt das nicht. In ihrem Buch entwickelt sie die Vision einer Demokratie, die vor allem auf verantwortungsbewusste Staatsbürger setzt. Kann das funktionieren?
Demokratie funktioniere nicht gut. Jedenfalls dann nicht, wenn sie – wie die meisten westlichen Demokratien – auf Gesetzen und Verfassungen beruht. So die provokante Ausgangsthese von Cindy L. Skach. Das Erstaunliche dabei: Skach ist selbst Juristin. Und sagt nun, wir sollten weniger auf die Autorität des Rechts und mehr auf uns selbst vertrauen.
Statt ein starres Regelwerk aus Gesetzen zu schaffen, will sie Demokratie neu, als aktiven Prozess denken. Wobei nicht die Gesetze selbst das Problem seien, wie sie schreibt. Sondern der Umstand, dass wir uns darauf verlassen, dass sie all unsere Probleme lösen. Denn das verhindere, dass wir von unserem eigenen Urteilsvermögen Gebrauch machen. Will Skach also alle Gesetze und Verfassungen abschaffen? Nein, jedenfalls vorerst nicht.

Eine Vision des idealtypischen Bürgers

Sie zeichnet vielmehr eine – wie sie es selbst nennt – Utopie, wie das Leben in einer Gemeinschaft kooperativer funktionieren könnte, als es derzeit geschieht. Entsprechend dem amerikanischen Originaltitel „How to Be a Citizen“ hat sie dabei das Bild eines neuen, sich stärker seiner Verantwortung bewussten Staatsbürgers vor Augen:

„Ich möchte zeigen, was wirkliches Staatsbürgertum meiner Meinung nach bedeutet. Es erschöpft sich nicht nur darin, Mitglied eines Staats zu sein. Staatsangehörige haben das Recht darauf, durch den Staat in bestimmten Bereichen geschützt zu werden, und sie haben ebenso Verpflichtungen gegenüber dem Staat und den anderen Staatsangehörigen. [...] Ich will hier also einen idealtypischen Bürger definieren: als ein verantwortungsvolles, aktives Mitglied der menschlichen Gemeinschaft.“

C. L. Skach, Demokratie ohne Gesetze

Sechs Handlungsanweisungen gibt Skach dafür. Die erste ist überschrieben mit „Nicht blind den Anführern folgen“. Zu viele Skandale innerhalb der politischen Eliten auch in demokratischen Staaten lassen sie daran zweifeln, ob Verfassungen und Gesetze ihre Aufgabe als Leitplanken und Kontrollinstrumente noch erfüllen könnten. Beziehungsweise ob sie es überhaupt jemals taten.

Vorbild: Black-Lives-Matter-Bewegung

Die Autorin plädiert deshalb stattdessen für „spontane, horizontale, nicht hierarchische Eigenverantwortlichkeit“ und nennt zahlreiche Beispiele, bei denen das bereits im Kleinen funktioniert. Wie die nachbarschaftlichen Hilfsnetzwerke, die sich außerhalb staatlicher Strukturen während der Corona-Pandemie gebildet hatten. Oder soziale Bewegungen wie die Black-Lives-Matter- und die Me-too-Bewegung. Diese Beispiele zeigten, so Skach,

„... dass Menschen Gerechtigkeit anstreben können und werden – außerhalb von Regierungsstrukturen oder gar ihnen zum Trotz. Menschen werden also unter den richtigen Bedingungen die richtige Ordnung etablieren.“

C. L. Skach, Demokratie ohne Gesetze

Sie ist überzeugt, dass die Charakterstärke von Menschen ausreiche, um ohne eine feste Ordnung zu leben. Soweit die Theorie.

Skach bleibt Antworten schuldig

Die einzelnen Schritte zu einer solchen Umgestaltung ganzer Gesellschaften lassen den Leser jedoch teilweise etwas ratlos zurück. Denn auch Skach stellt beispielsweise fest, dass wir uns heutzutage oftmals abgrenzen und uns ins private Leben zurückziehen. Wie sich diese Tendenz umkehren lässt, diese Antwort bleibt Skach schuldig. Und auch das nächste Kapitel, „Seine Rechte – verantwortungsvoll – einfordern“, lässt zahlreiche Fragen offen. Denn die Autorin denkt die Dinge nicht zu Ende:

„Um unsere Rolle als Bürger neu zu denken, müssen wir verstehen, dass wir unseren Mitmenschen zu ihren Rechten verhelfen können, indem wir unsere eigenen Rechte ein wenig einschränken. Dazu gehört auch, dass wir unsere Rechte in einer Weise wahrnehmen, die Vereinbarungen darüber ermöglicht, wann sie eingefordert werden können und wann wir auf ihre Einforderung verzichten, um die Rechte anderer nicht zu schmälern.“

C. L. Skach, Demokratie ohne Gesetze

Zweifel an der Realisierbarkeit sind angebracht

Auch hier: Mehr Theorie als Realität. Wer einmal einen Nachbarschaftsstreit oder eine Scheidung miterlebt hat, kann sich kaum vorstellen, dass hier private Aushandlungsmechanismen nachhaltig einen Konflikt beenden können. Selbst in den im Buch aufgeführten Beispielen werden letztlich doch die Gerichte angerufen.
Es gibt weitere Passagen, die den Leser an der Realisierbarkeit der Vorschläge zweifeln lassen. So schlägt Skach die Schaffung von öffentlichen Räumen vor, die für alle zugänglich sind. Das ist kein neuer Gedanke, sie selbst verweist auf Jürgen Habermas und seine Theorie der Öffentlichkeit. Skach entwirft das Idealbild einer „Piazza“. Das kann ein realer oder auch ein virtueller Platz sein. Auf jeden Fall aber ist es der Ort für die ...

„... dezentrale und spontane Austragung unserer Meinungsverschiedenheiten. [...] Wenn wir erst einmal zusammenkommen, um unsere Differenzen ein wenig besser zu verstehen, wird der Rest hoffentlich von allein passieren. Aber dafür müssen wahrscheinlich einige Auseinandersetzungen geführt werden.“

C. L. Skach, Demokratie ohne Gesetze

Meinungsvielfalt und Demokratie bleiben auf der Strecke

Weil aber, wie sie im vorherigen Kapitel schreibt, öffentliche Räume auch Orte der Information und des Austausches sein sollen, müssten dort Tagesnachrichten für alle verfügbar und zugänglich sein. Das Internet könne diese Aufgabe nicht erfüllen, denn es brauche ein Vertrauen darein, dass wir dieselben Nachrichten lesen und somit durch dieselben Narrative verbunden seien, schreibt Skach. Aber wie, so fragt sich der Leser, die Leserin verwundert, passt das zu Meinungsvielfalt und Demokratie.
Es ist bedauerlich, dass Skach mit ihrer Utopie auf halbem Wege stehen bleibt. Denn dass demokratische Strukturen und Mechanismen ihre Verheißungen nicht mehr erfüllen, ist in immer mehr Staaten deutlich zu sehen. Insofern ist ihre ausführliche Analyse durchaus lesenswert. Und ihre Vision von einem aktiven Bürger ist eine positive Alternativperspektive.
Für den Weg dorthin gibt Skach zwar zahlreiche nachdenkenswerte Anregungen und einiges davon ist auch individuell umsetzbar. Ob das aber reicht, um von hierarchischen Normsystemen zu einem kooperativen Miteinander und letztlich zu einer funktionierenden Gesellschaft zu kommen, ist leider fraglich.
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