Packend, kraftvoll – und erstaunlich zivil
Der wilde Calixto Bieito hat sich die Hörner abgestoßen. Jedenfalls komme seine aktuelle Opern-Inszenierung von Aribert Reimanns "König Lear" in Paris ohne eklige Exzesse aus – und sei im Übrigen eine gelungene Einheit von Werk und Präsentation, meint unsere Kritikerin.
Wenn Calixto Bieito inszeniert befürchtet mancher noch immer, es könnte auf der Bühne zu ekligen Exzessen mit viel nackter Haut und provokanten Szenen kommen. Doch mittlerweile hat Bieito sich die Hörner anscheinend abgestoßen.
In seiner Pariser Neuinszenierung von Aribert Reimanns "König Lear" geht es jedenfalls erstaunlich zivil zu. In Kamelhaarmänteln, Anzügen und Businesskostümen sind Lears Familie und sein Gefolge auf der Guckkasten-Bühne von Rebecca Ringst versammelt. Allerdings besteht die aus ziemlich düsteren Holzbrettern, durch die fahles Licht schimmert.
Lear ist gar nicht so altersschwach
Bo Skovhus als kraftvoller, gar nicht altersschwacher König Lear bricht symbolisch für sein Land ein Brot in Stücke, die er seinen Töchtern auf den Boden wirft. Goneril und Regan, gesungen von Ricarda Merbeth und Erika Sunnegard huldigen dem Vater in virtuosen Tonkaskaden und stürzen sich auf die Stücke. Die scheue Cordelia, verkörpert von Annette Dasch kann ihre Liebe nicht in Worte fassen und wird deshalb von Lear verstoßen. Die unaufhaltsame Gewaltspirale setzt sich in Gang.
Die Destruktion des Königs und seiner Familie beginnt: Die beiden machthungrigen Töchter zerren an ihrem Vater, bis Bo Skovhus nur noch in fleckiger Unterhose auf der Bühne steht. Es folgen Verfluchungen, Verstümmelung, Mord und Selbstmord. Der vertriebene König wird zum Obdachlosen im sich immer weiter auflösenden Bretterwald seines ehemaligen Königreichs. Zu seinen Begleitern in den Wahnsinn gehört Ernst Alisch als eindrucksvoller Narr in Sprechrolle.
Immer präsent: Reimanns aufreibende Musik
Immer präsent ist die packende, aufreibende Musik Reimanns. Fabio Luisi lässt die auskomponierten menschlichen Abgründe donnern, kreischen, stottern und flirren. Er baut mächtige Cluster auf, lässt den Sturm toben um ihn wieder in fahle Stille zusammenfallen zu lassen, wenn Lear an sich und der Menschheit verzweifelt.
Zärtlich gestaltet Annette Dasch ihre letzte Szene mit dem irr gewordenen Vater. Beide werden von Bieito wie Michelangelos Pietà zwischen die nun am Boden liegenden Bretter positioniert.
Reimanns Lear in Paris ist eine wirklich gelungene Einheit von Werk und Präsentation mit grandioser Sängerbesetzung. Schwere Kost, aber packend und ausdrucksstark.Aribert Reimann wurde umjubelt und bedankte sich im herzlichen Applaus der Pariser bei allen Beteiligten für diese Premiere.