Can Dündar: „Die rissige Brücke über den Bosporus“

Das System der permanenten Paranoia

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Cover des Buchs "Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen" des Journalisten Can Dündar.
© Galiani Verlag

Can Dündar

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert Türkische Republik und der WestenGaliani Verlag, Berlin 2023

238 Seiten

23,00 Euro

Von Ingo Arend |
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Exemplarischer Niedergang einer Demokratie: In „Die rissige Brücke über den Bosporus“ gelingt dem Journalisten Can Dündar eine scharfsinnige Analyse der Strukturprobleme der Republik Türkei. Sie feiert in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag.
Ein Land als „Brücke“. Schon im Titel seines Buches bemüht auch der Journalist Can Dündar die stereotype Metapher, die in keinem Diskurs über die Türkei fehlen darf. Doch der ehemalige Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“ zielt damit nicht auf den abgegriffenen Vermittlungseuphemismus, der darin mitschwingt, sondern auf ein Land, das zwischen Extremen pendelt.
Der tägliche Augenschein spricht für Dündars Analyse von der Türkei nach Atatürks Tod als „gigantische Schaukel“ zwischen „Moschee und Kaserne, Bajonett und Knüppel, Demokratie und Autokratie“. Doch was ist der tiefere Grund für diesen Mechanismus?

Im Geist der Französischen Revolution

Der 1961 geborene Autor, der seit 2016 im deutschen Exil lebt, macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für Mustafa Kemal, genannt Atatürk. Er zeichnet den Begründer des Kemalismus und Vater der modernen Türkei als Republikaner im Geist der Französischen Revolution.
Das entscheidende Defizit des Versuchs, aus den Resten des untergegangenen Osmanischen Reiches eine Republik nach europäischem Vorbild zu formen, war für Dündar allerdings der Versuch einer Modernisierung „von oben nach unten“. Die radikale Kulturrevolution – ein moderner Nationalstaat, neue Kleidung und ein neues Alphabet – sei an der Realität des ausgebluteten, ungebildeten und gottesfürchtigen Landes nach dem Ersten Weltkrieg vorbeigegangen.

Revanche der konservativen Basis

In Dündars Sicht ist der, trotz des Zehn-Jahres-Rhythmus der Militärputsche, wiederkehrende Triumph immer neuer islamisch-konservativer Parteien nach Atatürks Tod die konstante „Revanche“ der konservativ-religiösen Basis des Landes an dem verordneten Modernismus, Säkularismus und Laizismus.
Dündar zeichnet nach, wie Mustafa Kemal zu Beginn seiner großen Transformation islamische Revolten brutal niederschlug. Damit habe er jene „permanente Paranoia“ der Staatsgewalt begründet und dem politischen Islam den Weg geebnet, die auch das Regime seines Nachfolgers Recep Tayyip Erdoğan auszeichne.
Mit diesem kritischen Resümee setzt sich Dündar markant von der Heldenerzählung um Atatürk ab, die die kemalistischen Kreise, denen er selbst entstammt, bis heute pflegen. Erdoğan, der mit 21 Jahren inzwischen länger als der türkische Übervater selbst regiert, hat die Rückabwicklung von dessen Modell freilich derart forciert, dass Dündar zu Recht den Warnruf „Wir verlieren die Türkei“ ausgibt.

Mitschuld des Westens

Hart geht Dündar mit den Staaten des Westens ins Gericht, der das Land als Südostflanke der NATO, als offenen Markt und als Flüchtlingspuffer instrumentalisiert habe. Mit geheimen Sonderkriegseinheiten hätten die USA die Türkei immer wieder auf antikommunistischem Kurs gehalten und die Grundlagen für den in der Türkei vielbeklagten „Staat im Staat“ geschaffen. Die demokratischen Kräfte im Lande habe der Westen aber „alleingelassen“.
Kein Wunder, dass Dündar nicht auf Regierungen hofft, sondern „die globale Kooperation der demokratischen Kräfte“ als einzige Möglichkeit aufruft, der „globalen Kooperation mit Autokratien“ entgegenzutreten, wie sie die Türkei versinnbildlicht.
Dündars ist Journalist. Er schreibt packend, aber nie suggestiv. Zielsicher steuert er die neuralgischen Punkte von Politik, Geschichte und kollektiver Psyche der Türkei an, ohne sich mit drögen Chronologien aufzuhalten.
Auch wenn Dündar die wichtige Kulturgeschichte ausklammert – sein sprachlich, analytisch und dramaturgisch erstklassiges Buch liest sich ertragreicher als viele Gesamtdarstellungen der türkischen Geschichte. Immer wieder schildert der Autor das Geschehen aus eigenem Erleben. Gerade diese subjektive Perspektive macht sein Buch zur idealen Brücke zur Aufklärung über das labile Kunstprodukt, das seit Neuestem auf den Namen „Türkiye“ hört.
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