Cannabis in Kanada

Was die Legalisierung gebracht hat

19:02 Minuten
Jemand baut einen Joint auf einer kanadischen Flagge.
Als erstes G7-Industrieland legalisierte Kanada 2018 Cannabis. © picture alliance/empics/The Canadian Press/Jeff McIntosh
Von Kai Clement |
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Seit Oktober 2018 dürfen Erwachsene in Kanada Cannabis kaufen und konsumieren. Die staatlich lizensierten Shops sollen dem Schwarzmarkt die Nachfrage entziehen und so Drogenkriminalität eindämmen, hofft die liberale Regierung. Eine erste Bilanz.
Kanadas Hauptstadt Ottawa, Confederation Building, nur ein paar Schritte vom Parlament entfernt, das sich mächtig Mühe gibt, Big Ben zu imitieren.
William Blair begrüßt in seinem großzügigen Büro im Erdgeschoss. Er ist nicht nur Minister für Grenzschutz und Kampf gegen organisierte Kriminalität. Der liberale Premier Justin Trudeau hat ihn auch zum Cannabis-Minister gemacht: Besteuerung, Kontrolle der Anbauer, Drogen am Steuer, Schutz von Kindern - all das fällt in Blairs Ressort.

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Ein gewaltiger Rollenwechsel: Früher hat Blair als Polizeichef der Großstadt Toronto gegen Cannabis gekämpft, nun kontrolliert er das Geschäft damit.
"Hundert Prozent des Cannabis-Marktes waren in der Hand der organisierten Kriminalität. Ohne jede Regeln. Der Schwarzmarkt hat kein Interesse an der Gesundheit unserer Kinder oder der Sicherheit unserer Gemeinden. Ihn zu verdrängen ist ein wichtiges Ziel unsere Politik. Seit der Legalisierung vor einem halben Jahr findet inzwischen ein Drittel aller Einkäufe von Erwachsenen auf legalem Weg statt."
Für Minderjährige bleibt Cannabis nach den Vorgaben der Regierung weiterhin tabu. Studien warnen vor Schäden für das sich entwickelnde Gehirn. Allerdings gibt fast ein Drittel der kanadischen Teenager an, im vergangenen Vierteljahr Marihuana geraucht zu haben. Erklärtes Ziel der Regierung ist es, den Schwarzmarkt so zu beschädigen, dass Kinder letztlich kaum noch Drogendealer finden.

Cannabis-Kritikerin: Es geht um Geld, Jobs und Steuern

"Wir haben zudem immer noch alle Optionen von Ermittlung bis Strafverfolgung, um mit den Kriminellen umzugehen, die unsere Kinder in Gefahr bringen. An diesen Gesetzen hat sich nichts geändert."
Pamela McColl ist die vielleicht schärfste Kritikerin der Cannabis-Freigabe in einem Land, das sonst recht unaufgeregt damit umzugehen scheint. Kanada und die Droge - das war schon so lange angekündigt, ein Wahlversprechen Justin Trudeaus. Dann der Start auch noch verzögert. Als es am 17. Oktober schließlich so weit war, schienen die Gefechte von Gegnern und Befürwortern bereits geschlagen.
Eine Tüte mit Cannabis wird über den Ladentisch gereicht, im Hintergrund stehen Kamerateams.
Medienwirksam startete Kanada im Oktober 2018 den legalen Verkauf von Cannabis. Vorreiter war Uruguay.© AP/The Canadian Press/Paul Daly
"Das Problem ist doch: Es gibt einfach zu viele Lobbyisten in der Marihuana-Industrie. Auch die amerikanische Lobby hat nun tief Wurzeln hier in Kanada geschlagen. Die Regierung hat Hof gehalten mit all den Mitwirkenden der Marihuana-Industrie. Ihr geht es vor allem ums Geld, um Jobs, um Steuern. Und sehr wenig um gesundheitliche Aufklärung."
Acht Milliarden kanadische Dollar schwer sei das Geschäft, das bislang der Schwarzmarkt gemacht habe, sagt die Regierung. Pamela McColl spricht für mehrere Gruppen, die die Legalisierung ablehnen. Vor die Wahl gestellt zwischen Verbot oder der jetzt praktizierten Schadensbegrenzung mittels eines kontrollierten Marktes ist sie klar für die Rückkehr zur Prohibition. Aber selbst die konservative Opposition will die Legalisierung lediglich "überprüfen", sollte sie sich bei den Wahlen im Herbst gegen die regierenden kanadischen Liberalen unter Trudeau durchsetzen.
"Das größte Risiko gilt meiner Meinung nach Fragen der Fortpflanzung. Unsere eigene Gesundheitsbehörde 'Health Canada' erklärt gleich auf ihrer Webseite, dass Männer nicht Marihuana nehmen sollten, wenn sie Kinder haben wollen. Die wissenschaftlichen Daten zu Erbgutschäden und zur Veränderung von Spermien sind gravierend. Ich glaube nicht, dass viele kanadische Männer diese Risiken verstehen."
"Wie für viele andere Entscheidungen Erwachsener gilt - ganz ähnlich wie bei Alkohol oder Tabak: Unsere Verantwortung ist es, dass sie alle notwendigen Informationen bekommen, um sich gesünder, sicherer und gesellschaftlich verantwortungsbewusster zu entscheiden."

Größter legaler Cannabis-Hersteller weltweit in Smiths Falls

Das 9000-Einwohner-Örtchen Smiths Falls: Hier dröhnen Lüftungs- und Heizungsanlagen für Kanadas legales Marihuana. "Canopy Growth" ist Kanadas größter Produzent, eine knappe Autostunde von der Hauptstadt Ottawa entfernt.
Laborkittel, Überzieher für die Schuhe, Türen mit Chipcard-Lesern. "Canopy Growth" verbreitet eine technisch-sterile Atomsphäre mit strikten Kontrollen. In Smiths Falls stehen auch nicht die großen Hanf-Gewächshäuser, die finden sich vor allem an der Pazifikküste in Britisch-Kolumbien.
Zwei Hände begutachten eine Hanfpflanze.
Aus den Blättern und Blüten der Hanfpflanze lassen sich Haschisch und Marihuana herstellen. Sie enthalten den psychoaktiven Wirkstoff THC.© dpa
Hier aber wachsen die sogenannten Mutterpflanzen, die zur Massenvermehrung dienen und die Sortenreinheit gewährleisten sollen. Hier sind Labore zur Überprüfung der Produkte und zur Entwicklung neuer. Und hier ist das Besucherzentrum im Lounge-Stil für das Tochterunternehmen "Tweed", in dessen Namen das "Weed" augenzwinkernd schon eingebaut ist.
Den Gründer und Geschäftsführer nennt das "Manager-Magazin" bissig einen "Drogenboss". Da lacht Bruce Linton nur. Hauptsache, sie würden darüber nicht seinen oder gar den Firmennamen vergessen.
Bruce Linton ist lebendes Marketing - und scheint seine Energie und seine übersprudelnden Ideen kaum zügeln zu können. Als erstes fragt er, ob in Deutschland nicht der Kohlebergbau vor dem Aus stehe. Er wolle nämlich überall dort produzieren, wo es sonst keine Jobs mehr gebe.
In Smiths Falls ist zwar nicht die Kohleindustrie gestorben, aber der Schokoladenhersteller Hershey‘s gegangen. Mehr als 500 Jobs gingen damals verloren. Der kleine Ort geriet ins Schleudern. Heute gilt er als "Pot Capital of Canada", die Pot-Hauptstadt Kanadas.
Von hier aus will "Canopy Growth" nicht weniger als ein Google des Cannabis-Marktes werden. Schon jetzt ist die Firma der größte legale Hersteller der Welt. Die Mitarbeiterzahl ist binnen eines Jahres von 700 auf 2700 gestiegen. Für das erste Quartal seit der Legalisierung hat Linton eine Umsatzexplosion um fast 300 Prozent verzeichnet.
"Die Welt wacht auf. Cannabis ist doch nichts Neues. Regierungen haben die Wahl: Sie können es ignorieren, dann kümmern sich Kriminelle darum. Oder sie regulieren es, verdienen Geld damit und klären die Gesellschaft auf."

Ab Oktober 2019: Freigabe für Cannabis in Lebensmitteln

Risiken, ja, die gebe es, sagt Linton. Er zeigt dann aber gleich mit dem Finger auf die illegalen Händler mit dubioser Ware, unklarer Herkunft, Zusammensetzung und womöglich mit Verunreinigungen. Lieber spricht er über die Vorzüge der Pflanze - und die Marktchancen.
"Wir machen klinische Studien mit Menschen, die schlecht schlafen. Oder mit Älteren. Sie können sich womöglich schlechter bewegen, haben Schmerzen. Wir sehen uns Studien an, wonach Cannabis Älteren helfen kann, weil man dann andere Medikamente reduziert. Deshalb würde ich gerne auch den deutschen Markt für medizinisches Marihuana stärken."
Die Rechnung ist einfach: Kanada erlaubt Cannabis für jeden Erwachsenen, ob mit oder ohne Rezept. Aber: In dem zweitgrößten Flächenland der Welt leben nur etwa 37 Millionen Menschen. Allein in Deutschland ist die Bevölkerung mehr als doppelt so groß, sprich: ist der Markt damit auch mehr als doppelt so groß, wenn auch vorerst auf medizinischen Einsatz begrenzt.
Zugleich bereitet sich "Canopy Growth" auf "Cannabis 2.0" vor - die kanadische Cannabis-Freigabe auch für Lebensmittel und Getränke. Die soll im Oktober dieses Jahres folgen.
"Auf der anderen Straßenseite ist ein recht großes Gebäude - dort werden wir mit Cannabis versetzte Getränke herstellen. Dieses Produkt gibt es natürlich auf dem illegalen Markt auch nicht. Wir schaffen hier ein globales Unternehmen. Eine Firma hat uns gerade vier Milliarden US-Dollar für 17 Prozent unserer Firma gegeben."
Das erinnert an den Hype um Tech-Unternehmen. Wo aber die Erwartungen explodieren, ist vielleicht auch die Finanzblase nicht mehr weit. Zwischen 25 und 55 kanadischen Dollar hat die "Canopy Growth"-Aktie schon viel Auf und Ab gesehen. Noch schreibt das Unternehmen rote Zahlen - aber nur wegen des aggressiven Expansionskurses, so sieht es Geschäftsführer Linton.
"Cannabis 2.0" - da ist erneut Bundesminister Blair in der Hauptstadt Ottawa gefragt. Ein neuer Markt - von Gummibärchen über Gebäck bis hin zu Bier.
"Wir wissen, dass es nennenswerte zusätzliche gesundheitliche und soziale Risiken gibt für Lebensmittel, Extrakte und Produkte zur äußeren Anwendung. Deshalb haben wir uns dafür ein weiteres Jahr Zeit genommen. Wir wollen die richtigen Obergrenzen. So dass kanadische Erwachsene genau wissen, welche Stärke die Produkte haben und was sie auslösen können."
Die Gesundheitsbehörde "Health Canada" will maximal zehn Milligramm der psychoaktiven Substanz THC pro Lebensmittel oder Getränkepackung zulassen.
Ende März wurde noch fleißig gebaut. Anfang April hat dann die "Superette" in Ottawa eröffnet. Eines der ersten legalen Cannabis-Geschäfte in Ontario, der bevölkerungsreichsten Provinz Kanadas. Fast ein halbes Jahr hat die Region gebraucht, um Kunden mehr als ein Online-Angebot zu machen.
Das weiß geflieste Geschäft wirkt wie eine Mischung aus Metzgerei und Designer-Shop. Zur Eröffnung gibt es nur mäßige Schlangen. Und unaufgeregte Anwohner wie Lee-Anne. Sie macht sich keine Sorgen um die Sicherheit, sondern hat eher Bedenken über Staus und Parkplätze.

Kanadische Provinzen sind Cannabis-Flickenteppich

"Nein, nicht HTC sondern THC", korrigiert der Verkäufer einen Kunden. Das Fachvokabular rund um Cannabis geht nicht jedem leicht von den Lippen. Rund 3000 Kilometer von Kanadas Hauptstadt und dem "Superette"-Geschäft entfernt liegt Yellowknife, Hauptstadt der kanadischen Nordwest-Territorien. 20.000 Einwohner klein, nicht weit vom Polarkreis entfernt, ist hier auch im März der riesige Great Slave See noch so massiv zugefroren, dass über die Bucht hinweg eine Eisstraße nach Dettah verläuft.
Mal 18 mal 19 Jahre ist das Mindestalter. Meist dürfen Hanfpflanzen zu Hause angebaut werden, in Quebec aber nicht. Die kanadischen Provinzen und Territorien haben mit ihren Regelungen einen großen Cannabis-Flickenteppich gewoben. Dazu gehören auch die Geschäftsmodelle: Während Ontario bis April keinen einzigen Laden hatte und jetzt auf private Investoren setzt, gehen die Nordwest-Territorien einen anderen Weg: Sie verkaufen Cannabis über die ohnehin schon staatlich reglementierten Alkoholgeschäfte.
Zwischen Regalen mit Wein, Bier und Schnaps eine kleine Theke: unter Glas sechs fast identisch aussehende Cannabis-Kartons. Mit gelb unterlegten Warnhinweisen und dem gesetzlich vorgesehenen Stopp-Zeichen mit dem Hanfblatt darin.
Das Geschäft habe zwar an Fahrt aufgenommen, sagt Inhaber Edward Eggenberger. Gegen den billigeren Schwarzmarkt rechnet er sich aber keine großen Chancen aus. Der erste Verkaufstag dagegen war in dem kleinen Ort geradezu ein Ereignis, ein Spektakel. Ein Land auf Droge eben. Der Geschäftsführer des Alkoholgeschäfts:
"Der ganze Laden war rappelvoll. Wir mussten die Türen abschließen, damit nicht alle gleichzeitig reinkamen und wir die Kunden drinnen bedienen konnten. Einige kamen hier am 17. Oktober und haben etwas gekauft - ich bin überzeugt, das liegt immer noch zuhause bei ihnen rum."
Um acht Uhr abends hieß es dann: ausverkauft. Wie in vielen Orten Kanadas. Das Problem hat Edward Eggenberger heute nicht mehr, der Nachschub fließt.
Einfach nur "cool", freut sich ein Kunde. Kein Versteckspiel sei mehr nötig. Sein Plan: Nordlichter gucken und einen Joint rauchen.
Auf der Straße beim Dealer will er nicht mehr einkaufen. Unsicher sei das. Und die Ware womöglich verschmutzt. Die regierungsamtliche Kontrolle kommt für ihn einem Qualitätssiegel gleich.

Wechseln Süchtige vom Alkohol zu Cannabis?

Ein eigener Eingang, ein neuer Raum, abgetrennt vom Alkoholgeschäft. Die kleine Cannabis-Verkaufstheke reicht Edward Eggenberger nicht. Er expandiert - trotz oder gerade wegen der Schwarzmarkt-Konkurrenz. Und setzt auf Boutique-Atmosphäre, ganz ähnlich wie die "Superette" in Ottawa.
"Im Moment wäre es noch unwirtschaftlich, diesen Raum zu öffnen - das würde nur die Personalkosten in die Höhe treiben. Als die Preise für den legalen Verkauf festgelegt wurden, da hat der Schwarzmarkt nur gesagt: Das kann ich besser. So kommen Leute hierher und wenn sie die Preise hören, dann sagen sie: Ach, dann gehe ich lieber bei meinem Kumpel einkaufen.
In den gesamten Nordwest-Territorien leben keine 45.000 Menschen - auf einer Fläche fast viermal größer als die Deutschlands. Bürgermeister aus Paulatuk - rund 250 Einwohner - und Kakisa - Bevölkerung ca. 35 - haben sich Anfang des Jahres in Yellowknife getroffen.
Die Ureinwohner des hohen Nordens fühlen sich von der Cannabis-Freigabe auch Monate danach völlig überfordert.
"Für jeden hier im Norden geht es um die Frage der Folgen. Wird etwa der Cannabis-Konsum dramatisch zunehmen? Wir sind nicht naiv, wir wissen dass es Drogenkonsum hier auch vor der Legalisierung in allen Orten gegeben hat."
David Stewart ist als stellvertretender Finanzminister der Territorien auch zuständig für Steuer- und andere Fragen rund um Cannabis. Er war Mitveranstalter der Konferenz in Yellowknife.
"Zu den Herausforderungen im Norden gehören die höheren Suchtraten - von Alkohol bis hin zu anderen Drogen. Vielleicht wechseln jetzt manche vom Alkohol zu Cannabis. Historisch gesehen hat es hier viel Trauma gegeben - etwa wegen der sogenannten Residential Schools oder ähnlicher Ereignisse."
Das waren Internate für die Kinder von Ureinwohnern. Sie wurden ihren Eltern entrissen. Die kanadische Regierung und die katholische Kirche wollten ihnen damit die eigenen Traditionen austreiben. Teils mit Gewalt - auch Missbrauch war keine Seltenheit.
Menschen ohne Familie, ohne Vergangenheit, die Traumata an ihre Kinder weitergeben. Das Thema beschäftigt Kanada bis heute - jetzt auch mit Blick auf die Cannabis-Freigabe.
"Deshalb glaube ich, dass der Alkoholkonsum und Drogenmissbrauch hier im Norden tatsächlich nur Symptome sind und Behandlung und Beratung brauchen. Ich glaube nicht, dass Alkohol, Cannabis oder andere Drogen das eigentliche Problem sind. Es geht um die darunterliegenden Probleme, um die wir uns kümmern müssen, damit wir einer besseren Zukunft entgegen gehen."
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