Raban Witt (Hrsg.), Carl Hegemann: "Dramaturgie des Daseins. Everyday live"
"Alexander Verlag, Berlin 2021
448 Seiten, 30 Euro
Der Exzess gehört auf die Bühne
19:40 Minuten
"Die Schaubühne als moralische Anstalt" – das habe Schiller nie so gesehen, schreibt Carl Hegemann. Er habe die Schaubühne vielmehr als "außermoralische Anstalt" gedacht. Hegemann betont aber, Exzess und Machtmissbrauch hinter der Bühne brächten kein gutes Theater hervor.
Es liest sich, als wäre es ein kleiner Alltagsratgeber zur Pandemie – das gerade erschienene Buch von Carl Hegemann, "Dramaturgie des Alltags". Darin schreibt der Dramaturg und Philosoph so lebenspraktische Texte wie die über die Metaphysik der Zeitverschwendung, die Flucht in die Familie oder die Frage "Wie den Tag überstehen". Auf über 400 Seiten gibt es Hegemann-Texte aus 15 Jahren.
Missverständnis vom Theater als moralischer Anstalt
In dem Werk finden sich allerdings auch viele Gedanken zum Theater und zur langjährigen Zusammenarbeit mit Frank Castorf oder Christoph Schlingensief – der inzwischen 72 Jahre alte Hegemann war schließlich 15 Jahre Chefdramaturg an der Berliner Volksbühne, zudem auch noch zwei Jahre lang Co-Intendant am Berliner Ensemble.
Erstaunlichste Erkenntnis des Bandes: Der Satz "Die Schaubühne als moralische Anstalt", so Hegemann, sei gar nicht von Schiller: "Das hat er nie konzipiert."
Schiller habe die Schaubühne vielmehr als "außermoralische Anstalt" gedacht: Als einen Ort, an dem die Menschen "von den Fesseln aller Verhältnisse befreit sind und von jedem Zwang, sei er moralischer oder physischer Natur, entbunden". Für Schiller sei also Theater "ein Ort, an dem weder Naturgesetze noch moralische Gesetze irgendeine Geltung haben".
Mit Blick auf aktuelle Fälle von Machtmissbrauch an deutschen Bühnen betont Hegemann allerdings: Gutes Theater könne nicht entstehen, wenn "die Exzesse, die auf der Bühne gezeigt werden dürfen", verwechselt würden mit Exzessen, die sich bestimmte Leitungspersonen herausnähmen, im Glauben, sie könnten es tun. Nicht zuletzt dadurch komme "das verlogen moralische Theater zustande".
Funktionalisierung schwächt Kunst
Das Theater heute versuche leider, nirgendwo anzuecken, findet Hegemann. Für ihn werde es damit aber zur "sozialstaatlichen Unternehmung". Er beobachte eine "Anpassungsmentalität" und zunehmende Angst, den Job zu verlieren, wenn man sich äußere.
Dabei dürfe, was auf der Bühne stattfindet, gerade nicht funktionalisiert werden, denn: "Durch diese Funktionalisierung wird die Kunst ganz schwach."
"In den Zeiten, in denen ich im Theater aufgewachsen bin, da hat niemand daran gedacht, er könnte vielleicht den Job verlieren", sagt Hegeman. "Er wollte ja Kunst machen, und das war eben riskant." Er könne zwar gut verstehen, dass die Theatermenschen heute auch halbwegs gesicherte Arbeitsbedingungen haben wollten. "Aber wenn sie dadurch auch eine Beamtenmentalität der Kunst gegenüber entwickeln, dann ist das für die Kunst schädlich."