Carlo Rovelli: "Helgoland. Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert"

Was existiert denn nun?

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Cover des Buchs "Helgoland. Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert" von Carlo Rovelli.
Inspirierende Erzählung: Carlo Rovellis "Helgoland. Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert". © Deutschlandradio / Rowohlt
Von Volkart Wildermuth |
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Bücher über die Quantentheorie sind wie Berichte über Reisen an unbekannte Orte: faszinierend. Das neue Werk des Physikers Carlo Rovelli ist zudem auch noch unterhaltsam. Jenseits aller Formeln liefert er anregende Denkanstöße.
Schrödingers Katze, verschränkte Teilchen, Beobachtungen, die die Realität erst zu erschaffen scheinen: Quantenparadoxien, die aus den Formeln der erfolgreichsten Theorie der Physik folgen.
Mit Helgoland hat das alles nur insofern zu tun, als die Insel dem von Heuschnupfen geplagten Werner Heisenberg ein pollenfreies Refugium für seine Berechnungen bot.
"Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken", zitiert ihn Carlo Rovelli, "ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen".

Abschied von der Existenz

Um diesen Grund geht es dem Physikprofessor Rovelli in seinem neuen Buch. Denn obwohl die Quantentheorie ganz praktisch in vielen Gegenständen des modernen Alltags steckt, ist nach wie vor umstritten, welche Realität sie eigentlich beschreibt.
Carlo Rovelli plädiert dafür, sich von der Existenz von Objekten zu verabschieden. Real sollen nur ihre Interaktionen sein. "Wenn das Elektron mit nichts wechselwirkt, hat es keine physikalischen Eigenschaften. Es hat keine Position, keine Geschwindigkeit", schreibt Rovelli. Und: "Das ist ein radikaler gedanklicher Schritt."
Wohl wahr! Aber Rovelli macht ihn mit poetischen Formulierungen schmackhaft: "Die Welt der Quanten ist folglich luftiger, als die von der alten Physik erdachte. Sie ist eine Welt aus einem Gewebe, so duftig wie eine Burano-Spitze."
Sein Ansatz ermöglicht die Auflösungen diverser Paradoxien. Aus der Sicht von Schrödingers Katze etwa ist klar, ob sie schläft oder wacht. Aber der Beobachter von außen erlebt andere Wechselwirkungen und deshalb stellt sich ihm oder ihr die Realität auch anders dar.

Die gemeinsame Realität mittelt sich heraus

"Das ist des Rätsels Lösung, aber dessen Preis ist hoch: Es gibt keinen eindeutigen Tatsachenbericht." Auf der Quantenebene müssen daher die Fakten von zwei Personen nicht übereinstimmen. Geht es um größere Dinge, mittelt sich glücklicherweise doch meist eine gemeinsame Realität heraus.
Das ganze Buch ist erfreulich kurz und enthält dennoch eine Geschichte der Quantentheorie und diverse erhellende Exkurse etwa zum Bewusstsein oder zur russischen Revolution. Aber sein Kern ist die Darstellung der "Relationalen Interpretation der Quantenmechanik". Und da ist Carlo Rovelli sehr überzeugend.

Ein Land, das die meisten nicht betreten

Aber nicht vergessen: Es geht um Quantenphänomene - und die sind naturgemäß nicht eindeutig. Andere Physiker*innen bieten alternative Interpretationen an - die "Viele-Welten-Theorie" oder das Konzept der "Pilotwellen" etwa – und auch die klingen für das Laienpublikum überzeugend.
Es sind eben Reiseberichte aus einem Land, das die meisten nie betreten werden. Was dort wirklich vorgeht, ist vielleicht weniger wichtig, als dass die Erzählungen darüber inspirieren. Daran gemessen liegt Carlo Rovelli mit "Helgoland" ganz weit vorn.

Carlo Rovelli: "Helgoland. Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert"
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann
Rowohlt, Hamburg 2021
184 Seiten, 20 Euro

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