Carlo Strenger: Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen
Suhrkamp, Berlin 2019
172 Seiten, 16 EUR
Eliten-Analyse eines Insiders
05:41 Minuten
Wie konnte die Kommunikation zwischen linksliberalen und traditionsverbundenen Milieus nur verunglücken? Und wer sind eigentlich "diese verdammten liberalen Eliten"? Der Psychologe Carlo Strenger befragt in seinem neuen Buch sein Milieu und sich selbst.
Sie sind in den letzten Jahren zu einer der zentralen Feindfiguren der rechtspopulistischen Polemik geworden: die liberalen Eliten, wahlweise als "kosmopolitisch" oder "globalistisch" betitelt, beides durchaus negativ gemeint.
Wer aber sind sie, diese "verdammten liberalen Eliten", fragt Carlo Strenger in seinem neuen Buch, und stellt gleich zu Anfang einen vor: sich selbst.
Denn natürlich gehört der gebürtige Schweizer, Professor für Psychologie an der Universität Tel Aviv, angesehener Psychotherapeut und äußerst aktiver Publizist (er schreibt Kolumnen unter anderem für die Schweizer NZZ und für die linksliberale israelische Tageszeitung "Haaretz" und regelmäßig Essays in Buchform) zur Elite, und ein Kosmopolit ist er schon aufgrund seiner Migrationsgeschichte.
Standardsituationen liberaler Selbstkritik
Sein neuestes Buch ist halb der Versuch einer kultursoziologischen Beschreibung, halb einer Selbstbefragung. Letzteres gehört seit dem Aufstieg des autoritären Populismus und spätestens seit der Brexit-Entscheidung und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten zum Standardrepertoire der linksliberalen Eliten im politischen und journalistischen Feld: Hat man die "Sorgen" der Bürger nicht ernst genug genommen? Wurden die Arbeitermilieus vergessen zugunsten von Symbolpolitik und "politischer Korrektheit"?
Strenger stellt sich diesen Standardsituationen liberaler Selbstkritik. Er schließt sich zwar nicht der These an, dass soziale Gerechtigkeit zugunsten von Transgender-Toiletten vernachlässigt wurde, geht aber durchaus kritisch mit einer gewissen Überheblichkeit und Abgehobenheit des eigenen Milieus ins Gericht, das stärker traditionsverbundenen Gesellschaftsgruppen in den letzten Jahren mit zunehmender Geringschätzung begegnet sei. Und schließt mit einem so flammenden wie einleuchtenden Plädoyer für Bildung als absolut notwendiger Voraussetzung für die demokratische Lebensform.
Wie die Kommunikation zusammenbrach
Interessanter und origineller ist allerdings der große Mittelteil des Buches, in dem Strenger fünf Fallstudien von Mitgliedern der liberalen Elite vorstellt, die er von seiner Therapeutencouch kennt: Akademiker, Journalisten, Unternehmer. Hier schildert er eingängig, was einzelne Mitglieder dieser so verschrienen globalen Klasse umtreibt, wie sie ticken – und was der Preis ist für ihre kosmopolitische Entwurzelung. Und wie es kommt, dass die Kommunikation zwischen diesen hoch gebildeten und hoch mobilen Schichten und den orts- und traditionsverwurzelten nationalen Mehrheiten so offensichtlich und bedrohlich zusammengebrochen zu sein scheint.
Strengers entschlossene Personalisierung, seine Problembeschreibung vom Individuum aus, ist der kultursoziologischen Schärfe gelegentlich abträglich: Überlegungen zu Unterschieden zwischen Wirtschaftseliten und Kultureliten fehlen weitgehend. Aber sein Vorgehen leistet viel in der Sichtbarmachung der menschlichen Schwächen und Widersprüche der so oft als arrogant wahrgenommenen urbanen Kosmopoliten.
Würde einer der lautstarken rechtspopulistischen Kritiker das lesen, er würde möglicherweise sein Urteil über diese "verdammten liberalen Eliten" revidieren. Aber können wir in Zeiten der extremen Polarisierung wirklich davon ausgehen, dass ein elitäres Suhrkamp-Buch über Eliten überhaupt noch bei deren Verächtern ankommt?