Philosophie als Diskussionstechnik
Kann Philosophie zwischen Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen von Glaube und Wahrheit in den heutigen Konflikten helfen? Wahrscheinlich nicht. Der Philosophie-Professor Carlos Fraenkel glaubt ja, in seinem Buch "Mit Platon in Palästina" beschreibt er den Nutzen der Philosophie.
Dass Sokrates gläubig war, erstaunt ultra-orthodoxe New Yorker Juden. Christliche brasilianische Schüler, Nachfahren von Sklaven, wollen nicht recht glauben, dass die Oberschicht in der Kolonialzeit Sklaverei mit Gottesfurcht für vereinbar hielt. Und dass arabische Philosophen im Mittelalter nicht nur verschiedene islamische Lehren, sondern auch andere Religionen für gleichermaßen vernunftgeleitet und wahr hielten, finden sunnitische Studenten in Ost-Jerusalem seltsam. Carlos Fraenkels Buch über den "Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt" liest sich über weite Strecken wie ein unterhaltsamer Reisebericht über entfernte Weltgegenden und eine ethnologische Studie über religiöse Gemeinschaften.
Zu großen Teilen besteht es in der Wiedergabe von Gesprächen, die Fraenkel mit Schülern, Studierenden und nicht professionellen Philosophen zwischen Indonesien und Südamerika geführt hat. Und zwar philosophischen Gesprächen mit sokratischen Fragen und im Dialog mit den philosophischen Klassikern, allen voran den antiken: Was ist Wahrheit? Was ist das Gute? Das Standardrepertoire also jeden philosophischen Salons. Allerdings hat Fraenkel fast durchweg mit religiösen Menschen das Gespräch gesucht und mit ihnen immer wieder die klassische, in der Moderne aber weitgehend aus dem philosophischen Kanon verschwundene Frage nach dem Verhältnis von Religion und Philosophie diskutiert – also die nach der Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft, Wahrheit und Gott.
Spezialist für jüdische und arabische Philosophie des Mittelalters
Fraenkel, der in Deutschland und Brasilien aufgewachsen ist und mittlerweile in Montreal Philosophie lehrt, ist Spezialist für jüdische und arabische Philosophie des Mittelalters. Nach Sokrates kommt er in seinen Gesprächen schnell auf die großen Denker dieser Epoche: Averroes, Al-Farabi, Al-Ghazali, Avicenna, Maimonides. Ein attraktiver Korpus, sind doch diese Denker nicht wie spätere Philosophen darauf aus, Religionen insgesamt als unvernünftig abzukanzeln, sondern arbeiten vielmehr daran, die Vernünftigkeit der Religion schlechthin und die Gottgefälligkeit der Vernunft zu belegen. Es geht ihnen mithin darum, das religiöse Gefühl und die religiöse Tradition zu retten, beides aber mit rationalem Denken zu verbinden. Dass dieses Projekt auch für die heutige Zeit eine ungeheure Relevanz haben könnte, wird jeder zugestehen, der mit Sorge auf die wachsenden religiösen Konflikte in der Welt schaut.
Fraenkels Projekt ist darum so ehrgeizig wie einfach: Wenn wir Philosophie nicht nur als akademische Disziplin verstehen, sondern schlicht als Diskussionstechnik, mit der wir über unser Leben, unsere Überzeugungen, unseren Glauben reden können auch mit Menschen, die anderes glauben und leben, dann besitzt sie einen großen Nutzen für die Welt. Dieser schöne Optimismus könnte natürlich daran scheitern, dass es schwer sein wird, die ganze Weltbevölkerung in Fraenkels Debattierclub einzubeziehen, aber die gelungenen Beispiele im Buch zeigen immerhin, dass eine vernünftige Debattenkultur im Kleinen möglich ist. Das ist doch immerhin ein Anfang.
Carlos Fraenkel: "Mit Platon in Palästina. Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt"
Hanser, München 2016
256 Seiten, 19,90 Euro
Hanser, München 2016
256 Seiten, 19,90 Euro