Carmen Maria Machado: "Das Archiv der Träume"
© Tropen Verlag
Missbrauch in einer lesbischen Beziehung
06:30 Minuten
Carmen Maria Machado
Anna-Nina Kroll
Das Archiv der TräumeTropen Verlag, Stuttgart 2021332 Seiten
22,00 Euro
Carmen ist bis über beide Ohren verliebt. Doch bald übt ihre Partnerin physische und emotionale Gewalt aus. Der lesbische Traum wird zum Gefängnis.
"Erinnerung an sich ist eine Form der Architektur", schrieb Louise Bourgeois, die französisch-US-amerikanische Künstlerin, die ihre Träume zu begehbaren Installationen ausbaute. Sie liefert eines der drei Motti dieses kühnen Memoirs. "In the Dream House", wie "Das Archiv der Träume" im 2019 erschienenen Original heißt, erzählt vom Missbrauch in einer lesbischen Liebesbeziehung.
Anfangs scheint alles perfekt
Eine Zeitlang sah es aus wie die verwirklichte Utopie: In Iowa City, wo sie Kreatives Schreiben studiert, lernt die Erzählerin eine Frau kennen, die genau ihren Wünschen entspricht: androgyn, "eine Mischung aus Butch und Femme", ebenfalls Schriftstellerin und so fasziniert von ihrem Intellekt und Talent, dass sie über die "soziale Währung willkürlich festgelegter Erscheinungsmerkmale" hinwegsieht. Was Carmen für ihr Handicap hält, eine "kurvig-bis-fette Brünette mit Brille" zu sein, spielt plötzlich keine Rolle mehr.
Autofahrten im polyamourösen Dreieck
Die Geliebte (deren Namen wir nicht erfahren) lebt in einer offenen Beziehung mit einer anderen Frau namens Val. Ein polyamouröses Dreieck entsteht, die "perfekte Kreuzung aus Hedonismus und Familientauglichkeit". Man pendelt zwischen Iowa City und Bloomington, Indiana, wo die Geliebte einen Platz in einem Schreibseminar bekommt. Überhaupt fahren sie viel mit dem Auto quer durch die Staaten. Nicht nur die mehr als 650 Kilometer zwischen den beiden Studienorten, sondern auch nach Pennsylvania, um Carmens Eltern zu besuchen, und nach Florida, wo die Eltern der Geliebten leben. Dort kommt es zum ersten Mal zu einem Übergriff.
Zwischen Emotion und Intellekt
"Ich will nicht so sein wie er", sagt die Gefährtin über ihren aggressiven Vater. Erst mit der Zeit merkt Carmen, dass aus dem scheinbaren Glücksfall eine toxische Beziehung geworden ist, ein "Gefängnis" psychischer und emotionaler Gewalt.
Carmen Maria Machado, deren preisgekröntes Erzähldebüt "Ihr Körper und andere Teilhaber" vor zwei Jahren auf Deutsch erschienen ist, findet eine umwerfende Mischung zwischen Emotion und Intellekt. Sie erzählt ihre Geschichte nicht chronologisch, sondern in Fragmenten. Jedes einzelne ist mit "Das Traumhaus als..." überschrieben ("als Gedächtnispalast" beispielsweise, "als Spukhaus", "als Gefangenendilemma", "als Impfung"). Narration und Analyse gehen Hand in Hand, ein wilder Genre-Mix, der sich bei Film und Fantasy bedient, bei Märchen, Mythen, Fabeln.
Gewalt hängt nicht an Genderrollen
So entsteht ein bizarres Setting libidinöser Wunschträume. "Liebe, Lust und Lebensfreude ohne den ganzen Rattenschwanz, der an Männern hängt – für mich klingt das nach einer ziemlich guten Arbeitsdefinition vom Paradies", heißt es einmal hoffnungsvoll. Doch am Ende ergibt die Recherche bis zurück in die 1980er Jahre, dass häusliche Gewalt nicht an Genderrollen hängt.
Wie Maggie Nelson, Sheila Heti oder Leanne Shapton schlägt auch Carmen Maria Machado aus der Form des Memoirs essayistische Funken. "Das Archiv der Träume", als Selbstansprache in der zweiten Person erzählt und von Anna-Nina Kroll in ein ebenso klares wie gewitztes Deutsch übersetzt, ist ein intellektuelles Vergnügen mit Suspense-Drive.