Carmen Stephan: "It's all true"
Fischer Verlag, Frankfurt am Main
2017, 16 Euro
Orson Welles und vier Fischer auf einem Floß
1941 segeln brasilianische Fischer auf einem einfachen Floß in die Hauptstadt ihres Landes, ein Jahr später will Orson Welles ihre Heldenfahrt verfilmen. Warum das in einer Katastrophe endet, erzählt dieser eindrucksvolle Roman, der Fiktion und Dokumentation zugleich ist.
Die Fischer müssen ihren Fang teilen – mit den Besitzern ihrer Jangadas, den hochseetauglichen einfachen Flößen, mit denen sie Tag für Tag aufs Meer fahren. Sie verdienen zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Oft stirbt einer von ihnen draußen, lässt seine Familie unversorgt zurück.
Die Lage ist hart und ungerecht. Einer der Fischer will das ändern. Mit drei Freunden baut er selber ein Floß und macht sich mit ihnen auf eine lange Fahrt. Vom Nordosten Brasiliens, von Fortaleza in die Hauptstadt. 2000 Kilometer. Ohne Navigationsgeräte, barfuß.
Sie orientieren sich an den Sternen, trotzen den Stürmen und erreichen nach 63 Tagen Rio de Janeiro. Sie werden gefeiert, der Präsident empfängt sie, hilft ihnen, ändert ihre Arbeitsbedingungen.
Aus Fakten ein großartiges fiktives Buch gemacht
Am 8. Dezember 1941 liest der gerade sehr erfolgreiche Hollywood-Regisseur Orson Welles die Geschichte der "Vier Männer auf einem Floß" in der Zeitung. Er will und wird ihre Heldenfahrt verfilmen. Gerade arbeitet er an einem Brasilien-Film. Semi-dokumentarisch soll er das Land porträtieren. Zwei Geschichten hat er schon, die der Fischer soll der dritte Teil werden. Davon erzählt Carmen Stephan in "It's all true": von den vier Fischern und dem berühmten Regisseur, dem, während seines Brasilienaufenthalts, sein zweiter Film "The Magnificent Ambersons/Der Glanz des Hauses Amberson" gerade vom Studio zerstört wird. Der tief fällt.
Gerade war Orson Welles noch das begehrte Wunderkind, das "Citizen Kane" geschaffen hatte, jetzt beschert er dem Studio RKO einen Verlust von 600.000 Dollar. Und in Brasilien dreht er wieder für viel zu Geld viel zu viel Material. Niemand traut ihm mehr. Sein Brasilien-Film, dem der Roman den Titel verdankt, bleibt unvollendet.
Aus den Fakten macht die Münchner Autorin ein großartiges fiktives Buch. Sie erzählt einfühlsam von den Fischern und ihrem kargen Leben, von der langen Fahrt übers Meer, dem Kampf gegen die Elemente, ihrer Furcht und ihrem Mut, aber auch von der Zeit nach ihrem großen Erfolg.
"Die Wahrheit war tiefer"
Der Anführer der vier wird schief angesehen, man misstraut ihm, streut Gerüchte über ihn. Dann kommt der Mann aus Hollywood: Die beiden verstehen sich, gehen gemeinsam fischen. Das könnte eine Männerfreundschaft werden. Die Dreharbeiten beginnen. Es gibt einen Unfall, drei überleben, der Held stirbt, jener Fischer, der den Mut und die Idee hatte: Jacaré.
Ein schmales, hervorragend geschriebenes Buch, das von dem erzählt, was die Grundlage jeder Literatur ist, einer Wahrheit, die der Autorin "ein fein gewebtes Netz (ist), das unter allem lag. Und die Menschen sahen es nicht. Sie sprachen von dem, was wirklich ist. Aber es war nicht das Wirkliche. Die Wahrheit war tiefer. Sie hatte einen Grund".