Carol O'Connell: "Blind Sight"
Deutsch von Judith Schwaab
München: btb 2018
511 Seiten, € 10,00
Leichen im Garten des Bürgermeisters
Kathy Mallory vom NYPD ist eine der härtesten Ermittlerinnen der Krimiliteratur. Ihr neuer Fall "Blind Sight" führt sie bis in den Garten des New Yorker Bürgermeisters. Autorin Carol O’Connell entwirft ein zutiefst verstörendes Bild von New York.
Seit 1994 ist Carol O'Connells Hauptfigur Kathy Mallory von der Special Crimes Unit des NYPD schon unterwegs und immer noch ist sie Mitte Zwanzig. Immer noch ist sie eisig, exzentrisch, erschreckend intelligent, skrupellos, knallhart, wenig sozialkompatibel und mit einem sehr eigenartigen Humor ("der gehörte eher zu ihrer schwarzen Seite") ausgestattet. Empathie strahlt sie nicht gerade aus, oberflächlich gesehen. Und ausgerechnet Empathie ist das subkutane Thema ihres neuesten Abenteuers: "Blind Sight".
O'Connell, ein Seismograph New Yorks
Carol O'Connells New York City ist, ähnlich wie bei Jerome Charyn, ein phantasmagorischer Ort, in dem alles mit allem zusammenhängt. Ein Ort, der sich dennoch rasend verändert, und nicht zum Guten. O'Connell ist an der Stelle eine präzise Chronistin und Seismographin des Big Apple.
Die politischen Verhältnisse sind byzantinisch: Der Bürgermeister ist eine hochkriminelle Hedgefond-Heuschrecke, die katholische Kirche hat ihre mehr oder weniger schmutzigen Finger in so ziemlich allem, die Superreichen wähnen sich außerhalb jeder Gesetze, Polizei und Staatsanwaltschaft sind ein korrupter Haufen. Und so ist die bizarre Tatsache, dass im Garten von Gracie Mansion (der Residenz des Bürgermeisters) vier Leichen ohne Herzen auftauchen, wenig verwunderlich. Die Herzen kommen später, mit der Post. Die New Yorker Medien freuen sich schon auf die nächste Lieferung, Quote pur.
Ein labyrinthisch verästeltes Buch
Geheimnisvollerweise ist im Zuge dieser Mordserie eine Nonne zu Tode gekommen, die früher einmal Hure war, und ihr kleiner Neffe, ein blinder Junge aus reicher Familie, wurde entführt. Der Plot des Romans ist, im schönsten Wortsinn, labyrinthisch, verästelt, wahnsinnig und grotesk. So wie Mallorys Methoden, ihre Art, Auto zu fahren, jenseits der Legalität zu agieren und ihr skorpiongleicher Umgang mit ihren Mitmenschen – blitzschnell hat sie deren Schwachstellen erkannt und sticht unbarmherzig zu. Der kleine, blinde Junge, der sich im Laufe des Romans grandiose Dialoge mit seinem Entführer, einem bis zur Halskrause zugedröhnten Auftragskiller, liefert, ist, so hat man den Eindruck, derjenige, der noch am ehesten durchblickt.
Was er mit seinen blinden Augen sieht, ist nicht schön: Eine Gesellschaft, die brutal, gleichgültig, auf den eigenen Vorteil bedacht und widerwärtig geworden ist. Herzlos – diese Metapher sitzt genau auf dem Punkt - und ohne jede Art von Empathie. Aber halt: Es gibt Empathie in dem Buch. Auf zwei ziemlich ungewöhnlichen Ebenen. Einmal führt die anscheinend empathielose Ermittlungsmethodik von Mallory, die ihrer Umwelt und ihren Kollegen alles und noch mehr abverlangt, zum letztlich humanen Resultat, weil es ihr im Grunde eine "Herzensangelegenheit" war. Zum anderen mischt sich eine Empathie ein, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. Auf beides angewiesen zu sein, das kann man schon als bitteren Kommentar zur Zeit verstehen. Carol O'Connell in Hochform.