Mehr Informationen rund um das Genre und Neuerscheinungen finden Sie auf unserem Krimi-Portal.
Eine Geschichte über Selbstjustiz und lang gehütete Geheimnisse
Castle Freeman ist für schräge Kriminalromane mit trockener Sprache und noch trockenerem Humor bekannt. Auch in seinem neuen Roman liefert er eine lakonische und leicht skurrile Geschichte: Ein Sheriff aus Vermont wird von einem Pensionär unter Druck gesetzt.
Lucian Wing hat seinen Posten als County Sheriff in einem Tal im nördlichen Vermont vor allem dem Umstand zu verdanken, dass er aus der Gegend kommt. Es ist ein schönes, ein gutes Tal, nicht sonderlich groß, die Menschen wollen vor allem in Ruhe gelassen werden. Wing macht seine Sache gut, wenngleich manche glauben, er würde nichts tun. "Aber es gibt Menschen, die nichts tun, und andere, die auch nichts tun, das aber richtig.
Und die Letzteren braucht man überall, und sei es nur, damit sie dem einen oder anderen ab und zu einen kleinen Stubs geben oder die richtige Stelle zur rechten Zeit mit einem Tropfen Öl versehen. Der Sheriff kann stubsen. Der Sheriff hat ein Ölkännchen." Zumal Wing mittlerweile gelernt hat, dass es manchmal besser ist, nichts zu tun. Er ist geduldig, weiß, wann er auch einmal weggucken muss und dass sich manche Dinge gelegentlich von selbst regeln. So hat er in Castle Freemans vorherigen Buch "Auf die sanfte Tour" bereits die Mafia aus dem Tal vertrieben.
Mit der Ruhe ist es rasch vorbei
In der "Der Klügere lädt nach" ist es aus drei Gründen mit der Ruhe aber erst einmal vorbei: Erstens scheint Wings Mutter dement zu sein. Zweitens lebt er von seiner Frau Clemmie getrennt, die stattdessen Zeit mit "ihrem alten, neuen Freund" Jake verbringt. Und drittens gibt es Stephen Roark, den alle nur den "großen Vorsitzenden" nennen, seit er vor kurzem den Vorsitz des Gemeinderats von Cardiff übernommen hat, der drittgrößten Ortschaft des Countys. Ein Zugezogener, ein Pensionär, der früher im Pentagon gearbeitet hat und nun Vermont als seinen Ruhesitz auserkoren hat. Natürlich in der festen Überzeugung, alles besser zu wissen als die Hinterwäldler.
Eigentlich wollte Wing auch Roark aussitzen, da der Vorsitzende früher oder später einsehen wird, dass er mit seinem forschen Auftreten nicht weit kommt. Aber dann findet Roark eines Nachts den verletzten Kleinkriminellen Terry St. Clair auf der Straße, bringt ihn ins Krankenhaus und ist seither besorgt. "Und wenn Stephen Roark, der Vorsitzende oder wie er auch immer genannt werden wollte, besorgt, sehr besorgt war, dann bedeutete das für mich nichts Gutes", konstatiert Wing.
Ein sehr genauer Beobachter
Tatsächlich verlangt Roark von Wing aufzuklären, wer Terry die Hand abgetrennt hat. Aber Terry sagt, es war ein Unfall, er sei mitten in der Nacht in die Heupresse geraten. Das ist natürlich gelogen, aber eigentlich findet Wing, dass er der Sache damit Genüge getan hat. Doch Roark sieht es anders – und setzt ihn gehörig unter Druck.
Castle Freeman ist eine verlässliche Größe, wie schon seine beiden vorherigen Bücher ist "Der Klügere lädt nach" eine wunderbar zu lesende, kurze, lakonische, leicht skurrile Geschichte aus Vermont. Schräge, literarische Kriminalromane mit trockener Sprache und noch trockenerem Humor also.
Ungemein doppelbödig
Sheriff Wing als Figur und Erzähler passt mit seiner behaupteten Durchschnittlichkeit ganz wunderbar dazu, denn eigentlich weiß Wing ganz gut, was in der Gegend los ist und ist ein sehr genauer Beobachter. Doch Wing legt es als Sheriff und auch als Erzähler darauf an, dass andere ihn unterschätzen.
Und so entpuppt sich inmitten dieser angedeuteten Behaglichkeit der Provinz eine fiese, gemeine und ungemein doppelbödige Geschichte über Selbstjustiz und lang gehütete Geheimnisse.
Castle Freeman: Der Klügere lädt nach
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Nagel & Kimche, Zürich 2018
208 Seiten, 19 Euro