Castorfs Volksbühne ist Theater des Jahres

Ausgezeichnete Theater-Anarchisten

Frank Castorf verabschiedet sich von der Berliner Volksbühne
Und zum Abschied nochmal Blumen: Intendant Frank Castorf verlässt die Volksbühne. Theaterkritiker kürten das Haus zum "Theater des Jahres 2017". © dpa
Von Susanne Burkhardt |
46 Theaterkritiker haben entschieden: Sie verabschieden sich von Castorfs Berliner Volksbühne mit einer Würdigung als "Theater des Jahres". Eine gute Entscheidung - wie im übrigen auch die weiteren Auszeichnungen überzeugen, meint unsere Kritikerin Susanne Burkhardt.
"Ach, diese Lücke – diese entsetzliche Lücke!" So hat Joachim Meyerhoff, in diesem Jahr ausgezeichnet als Schauspieler des Jahres, einen seiner drei großartigen biografischen Romane mit Goethes "Werther" überschrieben. Worte, die über dem Ende der Castorf-Ära stehen könnten. "Die Lücke des Volksbühnenwunders wird kein anderes Theater schließen", schreibt der Chefdramaturg des Berliner Gorki-Theaters in seinem Spielzeitheft. Sein Haus wurde im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Bühne am Rosa-Luxemburg-Platz zum "Theater des Jahres" gewählt.

Theater als anarchisch-rauschhafter Ort

Die Volksbühne unter Frank Castorf hat das Stadttheater neu definiert, hat Theatergeschichte geschrieben, als revolutionärer, unkonventioneller, politischer, anarchischer, rauschhafter Ort, an dem Künstler wie Castorf, Schlingensief, Gotscheff, Marthaler, Kresnik, Fritsch und René Pollesch mit ihren so unterschiedlichen Theaterzugängen nebeneinander aufs Beste existieren konnten. All das ist ausführlich in den zahlreichen Abschiedselogen beschrieben worden. Die Wahl zum Theater des Jahres ist also so folgerichtig wie beglückend.
Jeanne Balibar und Claire Sermonne in Frank Castorfs Inszenierung von Honoré de Balzacs "La Cousine Bette" an der Berliner Volksbühne im Jahr 2013
Castorf machte die Volksbühne zu einem rauschhaften Ort - etwa in seiner Balzac-Inszenierung "La Cousine Bette" im Jahr 2013.© dpa-Zentralbild
Und die Freude hält mit Blick auf die weiteren Gewählten an: Valery Tscheplanowa ist Schauspielerin des Jahres - unter anderem für ihre Darstellung des Gretchens in Castorfs "Faust-Marathon" - eine außergewöhnliche, sich selbst verausgabende und wandlungsfähige Darstellerin. Genau wie Joachim Meyerhoff – der Thomas Melles Bipolaritätexegese "Die Welt im Rücken" in einem dreistündigen Solo im Wiener Akademietheater die Gestalt leiht.

Hervorragende Juryentscheidungen

Die Wahl der Kritiker greift das Beste auf, was diese Theatersaison zu bieten hatte: Simons Stones Tschechow-Überschreibung der "Drei Schwestern", eine beschleunigte Wohlstands-Satire, ist das Stück des Jahres. Milo Raus "Five Easy Pieces" – im Vorfeld massiv diskutiert und kritisiert – wird Inszenierung des Jahres. Rau lässt Kinder die Geschichte des Kindermörders Marc Dutroux und seiner Opfer nachspielen.
In seiner Arbeit aber geht es letztlich um die großen Fragen des Theatermachens: wie spiele ich eine Rolle. Warum spiele ich? Ein Abend, der die meisten Inszenierungen des Jahres in seiner Intensität und auch aufgrund der hinreißenden Darsteller überstrahlt.

Unfairer Kulturkampf

Keine Überraschung also nirgendwo: auch nicht bei der Wahl von Sina Martens und Michael Wächter zu den Nachwuchsschauspielern des Jahres.
Ein bisschen überraschend vielleicht, dass noch zwei weitere Regisseure ausgezeichnet wurden: Ulrich Rasche und Ersan Mondtag, allerdings nicht für ihre Inszenierungen, sondern zum einen für das beste Bühnenbild - die gigantischen Förderbänder bei Rasche - und zum anderen für die besten Kostüme - Mondtags Ganzkörperoveralls, auf die nackte Körper gemalt sind.
Dass viele der Kritiker als ärgerlichste Erfahrung des Jahres den unwürdigen und mitunter unfairen Kulturkampf um die neue Leitung der Volksbühne erwähnen – auch das überrascht kaum. Aber manchmal kann man auf Überraschungen eben auch gut verzichten.
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