Catherine Merridale: Lenins Zug. Die Reise in die Revolution
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017
384 Seiten, 25 Euro
Eine Reise in die Revolution
Von Zürich bis nach Petrograd: In "Lenins Zug" erzählt die britische Historikerin Catherine Merridale die Umstände einer Schienenfahrt mit Folgen für die Weltgeschichte – nach seiner Ankunft war der russische Revolutionär zunächst ein politischer Außenseiter.
Es ist die berühmteste politische Zugfahrt der Geschichte. Eine Gruppe russischer Exilanten steigt am 9. April 1917 in Zürich in den Zug, um heimzukehren ins revolutionäre Russland. Als die Gruppe am 16. April in Petrograd aus dem Zug steigt, wird einer wie ein Heilsbringer empfangen: Lenin. Nach dem Sturz des Zaren ist Russland "das freieste Land der Welt", schreibt die britische Historikerin Catherine Merridale. Aber die wichtigsten Aufgaben, die Beendigung des Krieges und die Landreform, werden nicht angepackt. Das ist die Chance Lenins, des entschiedensten Revolutionärs seiner Zeit.
Lenins Oktoberrevolution als großes Verhängnis
Catherine Merridale ist eine profunde Kennerin der sowjetischen Geschichte. Marx und Lenin seien einmal ihr eigenes Universum gewesen, bekennt sie - und reflektiert ausführlich über Lenins Oktoberrevolution als großes Verhängnis. Ohne Lenin wäre die russische Geschichte anders verlaufen. Über seine Reise ist natürlich schon viel geschrieben worden, aber oftmals sehr ungenau: "Die meisten Experten lassen ihn auf einer Route nach Norden fahren, die 1917 noch gar nicht existiert", hat sie verblüfft festgestellt. Die Darstellungen weichen bis zu 1600 Kilometer von der realen Route ab. Merridale hat die Zugfahrt persönlich zurückgelegt und recherchiert, auf welcher Bahnlinie Lenin wirklich unterwegs war.
Herausgekommen ist eine sehr anschauliche Reisebeschreibung mit einem wunderbaren Einstieg - in Haparanda in Nordschweden. In diesem bis zum Eisenbahnbau weltfernen Nest am nördlichen Polarkreis war der Grenzübergang nach Finnland, das damals noch zu Russland gehörte. Mit dem Übergang ins finnische Tornio hatte Lenin den heiklen Teil seiner Reise überstanden. Die Fahrt durch Deutschland war ungemütlich und unsicher, auch in ihren Auswirkungen unberechenbar: In Russland konnte man ihm Kollaboration mit dem Kriegsgegner Deutschland vorwerfen.
Von zwielichtigen Gestalten arrangierte Fahrt
Dass – umgekehrt – Deutschland Lenin nach Russland reisen ließ, damit er dort die Verhältnisse aufmischte, war weniger erstaunlich, als es heute erscheinen mag: Damals gab es vielfältige Versuche – nicht nur – der Deutschen, Unruhe bei den Kriegsgegnern zu stiften. Merridale beschreibt die zwielichtigen Gestalten, die Lenins Reise arrangierten, und konstatiert trocken: "Die Geschichte von Lenins Zug ist eine Parabel über Großmachtintrigen, und eine Regel besagt, dass Großmächte fast immer irren."
Lenin war nach seiner Ankunft in Petrograd zunächst zwar ein politischer Außenseiter, aber er traf auf eine wachsende Radikalisierung vor allem jüngerer Leute, und er verstand es wie kein anderer, den Traum von der großen Veränderung zum Thema seiner Agitation zu machen.
Die Vor- und die Wirkungsgeschichte von Lenins Reise nehmen breiten Raum in Merridales Buch ein. Merkwürdig ist allerdings, dass die Darstellung nicht bis zur entscheidenden Wende im Oktober reicht. Merridales Ziel war es, die "Reise ... neu zu erschaffen". In der Anlage und im Stil ist es kein Roman, aber eine ebenso unterhaltsame wie aufschlussreiche Erzählung. Die perfekte Lektüre für eine längere Bahnfahrt.