Die Grenzen des guten Geschmacks
War Helmut Kohl ein Stück Obst? Das Satiremagazin "Titanic" hatte den damaligen Bundeskanzler über 80 Mal auf dem Titel - und titulierte ihn meistens als "Birne". Satire liegt jenseits der Grenzen des guten Geschmacks - das muss eine Demokratie vertragen können. Die Debatte mache deutlich, wie wenig selbstverständlich für selbstverständlich erachtete Grundlagen unserer Gesellschaft sind, meint Hans von Trotha.
Das Satiremagazin "Titanic" hat in den Achtzigerjahren unentwegt behauptet, Helmut Kohl sei eine Birne. Aber natürlich hat niemand in der "Titanic"-Redaktion je ernsthaft angenommen, es handele sich beim amtieren Bundeskanzler um ein Stück Obst.
Es ist albern, darauf hinzuweisen? Nun, ich bin mir da nach den Debatten der letzten vierzehn Tage nicht so sicher.
Über 80 mal war Kohl übrigens auf "Titanic"-Covern zu sehen. Die waren nicht alle witzig, meistens geschmacklos und nicht selten bewusst beleidigend. Dem Buchstaben nach. Dem Geist nach zelebrierten sie eine Kultur des satirischen Umgangs mit gesellschaftlich relevanten Themen, wie er einigen Autoren, Personen und Institutionen im Rahmen eines ungeschriebenen, unausgesprochenen Gesetzes von der demokratischen Mehrheitsgesellschaft zugestanden wird. Dabei ist es nicht nur erlaubt, sondern Sinn der Sache, die Grenzen des Erlaubten auszuloten. Und die befinden sich immer jenseits der Grenzen des guten Geschmacks, zumindest in einer funktionierenden Demokratie.
Gegen den Geist des Gleichgewichts
Das bedeutet keineswegs, dass jede Beleidigung erlaubt sein muss. Im Gegenteil: Wäre es so, wäre die Definition der Grenze durch ihre Auslotung ja nicht mehr notwendig und auch nicht spannend. Dass es bei uns aber ein eigenes Gesetz gibt, dass es Mächtigen jenseits der Grenzen unserer Demokratie gestattet, in dieses fragile Gleichgewicht einzugreifen, indem sie den Buchstaben einer Satire gegen den Geist dieses Gleichgewichts ausspielen, das ist, wie so manches in unserem Staat, gelebtes 19. Jahrhundert. Jetzt soll er weg, dieser Majestätsbeleidigungs-Paragraph. Das ist gut so. Hilft der Kanzlerin aber nicht. Denn die hat einen sehr schwierigen, vielleicht auch nicht sehr solidarischen neuen politischen Verbündeten. Und der hat ihn noch gesehen. Und uns jetzt alle an ihn erinnert.
Das ist Pech für die Kanzlerin, jetzt muss sie ihn vollstrecken. Etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig. Vielleicht ist das aber auch mehr als nur Pech. Unter normalen Umständen hätte jeder das Erdogansche Ansinnen einer Strafverfolgung von Jan Böhmermann als das genommen, was es ist – eine unnötige Störung eines funktionierenden Systems, unternommen aus Eitelkeit, Narzissmus, blinder Wut und mangelndem Verständnis für diese Gesellschaft, um es freundlich zu interpretieren. Die Alternative wäre, dass es ein bewusster Affront gegen die neue Verbündete und gegen ein System sein sollte, dessen Teil Erdogan doch werden will, wenn er es ernst meint mit der Annäherung an die Europäische Union.
Zweckbündnis mit Türkei aus Not geboren
Aber die Umstände sind nicht mehr normal, seit Angela Merkel im Umgang mit Flüchtlingen das einzig menschlich, politisch und pragmatisch Sinnvolle und Richtige getan hat, dabei aber vom Gros ihrer sogenannten europäischen Partner, man könnte sagen: schmählich im Stich gelassen wurde. Das hat europa- aber auch innenpolitisch zu tiefen Verwerfungen geführt. Ja manche sehen durch die Anwesenheit von Flüchtlingen in unserem ziemlich robusten Land sogar die Kultur gefährdet.
Aus der Not ist das Zweckbündnis mit der Türkei geboren, das deren Präsident nun dazu nutzt, die Chancen seines Gebarens in unserem geistigen Territorium auszutesten. Dabei reitet er auf dem Buchstaben über die Grenze der Meinungsfreiheit, und die Kanzlerin, diese Kritik muss sie sich gefallen lassen, hat sich mitreißen lassen, vielleicht im Glauben, den Buchstabenritter von der traurigen Gestalt dadurch zu besänftigen. Das aber hat zu einer seit nunmehr zwei Wochen andauernden Debatte geführt, in der viel auf Buchstaben geritten wird. Es ist an der Zeit da mal Paulus zu zitieren, 2., Kor. 3,6: "Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig." Die Debatte macht deutlich, wie wenig selbstverständlich für selbstverständlich erachtete Grundlagen unserer Gesellschaft sind. Und das ist eine sehr viel größere Gefahr für unsere Kultur als die Anwesenheit von Flüchtlingen.