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Wie die Coronakrise die Welt zu neuem Denken zwingt
05:56 Minuten
Rassismus, soziale Ungleichheit oder ökonomische Ungerechtigkeit: Die Corona-Pandemie bringt existierende Schieflagen mit neuer Schärfe ans Licht. Welche Chancen sich daraus für eine Neujustierung der Welt ergeben, lotet das Kunstprojekt „CC:World“ aus.
In arabischer Sprache: Die Erinnerung an die berühmte Geschichte Antonin Artauds über die Pest und wie sie von Marseille Besitz ergreift, sich aber auch schon zuvor im Traum des Herrschers ankündigt. Währenddessen sehen wir einen Schwenk über Beton, dann die Höfe zwischen Hochhäusern, das Meer, den Himmel.
Der libanesische Künstler Rabih Mroué beginnt in seinem traumwandlerischen Video "Cheers to our Wishes" mit einem für diese HKW-Reihe emblematischen Trick: Bildhaft ist es das Unscharfstellen des an sich Bekannten, sprachlich ist es ein ins Ungefähre verschobenes, zuvor als sicher geglaubtes Wissen.
Mroué lotet in Bild und Wort kongenial die Erfahrung des Verschwindens aus – mit poetischer Botschaft: Corona ist eine Herausforderung an den Sinnesapparat. Unschärfe ist die ehrliche Antwort des Künstlers auf die neue Herausforderung. Eine kluge Diagnose.
Die posthumanistische Auflösung der Spezies?
Sendbotschaften anderer Künstlerinnen und Künstler an eine global erkrankende Menschheit operieren auf dem Terrain bekannter Assoziationen: Einen kurzen Gang durch den Gemüsegarten zeigt das ein bisschen sehr beiläufig erstellte Video des Chinesen Hu Fang.
Natur ist auch für die Künstlerin Jenna Sutela der Ausgangsstoff: Ihre Kamera vertieft den Blick ausgehend von drei Marktkörben mit Gemüse auf einen Brokkoli. Schwer lässt sich bei der Großaufnahme seiner Oberfläche die Assoziation mit dem Mikroskopbild von Bakterien oder Viren vermeiden. Derweil fordert der Ton mantraartig auf, sich auf die gegenseitige Koexistenz alles Organischen einzulassen. Ein erster Therapieansatz vonseiten der Kunst? Die posthumanistische Auflösung der Spezies?
Natur ist auch für die Künstlerin Jenna Sutela der Ausgangsstoff: Ihre Kamera vertieft den Blick ausgehend von drei Marktkörben mit Gemüse auf einen Brokkoli. Schwer lässt sich bei der Großaufnahme seiner Oberfläche die Assoziation mit dem Mikroskopbild von Bakterien oder Viren vermeiden. Derweil fordert der Ton mantraartig auf, sich auf die gegenseitige Koexistenz alles Organischen einzulassen. Ein erster Therapieansatz vonseiten der Kunst? Die posthumanistische Auflösung der Spezies?
Ein von Grafiken unterstützter Textbeitrag der Philosophin Maria Chehonadskih und des Philosophen Andrés Saenz de Sicilia formuliert eine Gegenposition:
"In der populären Debatte über das Anthropozän stellt man sich eine Welt ohne Menschen als einen besseren Ort vor: als 'sauber'. So als würde die Natur gedeihen, sobald die Welt von der anthropologischen Präsenz befreit ist. Diese Selbstvernichtung ist ein Symptom von Müdigkeit und Gleichgültigkeit. Der Mensch wird von Natur aus als böse angesehen, aber was dieses Übel hervorbringt, ist nicht die Natur, sondern die Gesellschaft."
Die beiden Philosophen appellieren angesichts der Bedrohung durch Sars-CoV-2 an klassische soziologische Tugenden. Ihre "Globale Verteilung des Ethischen" erkennt in der Krise keine grundsätzlich neue Situation, sondern die Verschärfung der herrschenden Ungerechtigkeit und ihrer neuen und alten Grenzziehungen.
"Lieber Henry Kissinger..."
Auch der angolanische Künstler Kiluanji Kia Henda ist in Zeiten von Corona zunächst mit der Aufarbeitung der alten Verbrechen des 20. Jahrhunderts befasst:
"Lieber Henry Kissinger. Ich schreibe Ihnen aus Luanda, Angola, südliches Afrika. In dem Briefumschlag sende ich Ihnen auch Fotos von der Straße, in der ich meine Kindheit erlebte, während Sie einen Konflikt schürten, und zwar zehntausende Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Sie wohnen. Die Flamme der Zerstörung, befeuert von Ihrem machiavellistischen Geist, erlosch erst nach 27 Jahren."
Im Kontext von Pandemie und Rassismus
Mittlerweile lassen sich die Weltkonfliktlinien des 20. Jahrhunderts auf der Landkarte der USA nachvollziehen. In einem eigenen Programmschwerpunkt der Reihe CC will sich das HKW im August mit dem Kontext von Pandemie und Rassismus auseinandersetzen, in deren Zusammenhang der Tod von George Floyd zu sehen ist. Dafür gibt es auf der Webseite des Kulturhauses bereits heute einen Vorgeschmack, das Gespräch mit der Soziologin Ruha Benjamin:
"Dem Mord an George Floyd ging voraus, dass ein Ladenbesitzer ihn beschuldigte, mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein bezahlt zu haben. Floyd hatte gerade aufgrund der Pandemie seinen Job verloren. So wird die ökonomische Krise zu einer direkten Voraussetzung seines Todes. Ökonomische Prekarität führt in Situationen, die von vornherein lebensgefährlich sind, wenn man Schwarz ist."
In den USA scheinen sich derzeit die beiden Krankheitsdimensionen der Coronakrise kaskadenartig zu verstärken. Die biologische und die gesellschaftliche Katastrophe überlagern und verschärfen sich gegenseitig. Ihre Opfer sind vor allem am Rand der Gesellschaft zu finden, bei den Unterprivilegierten. Zur Diagnose können die Künstler und Wissenschaftler der Reihe CC beitragen. Auf die Covid-19-Therapie vonseiten der Kunst müssen wir noch warten.