CD-Box "Big Gold Dreams"

"Wir hatten den dreckigeren Sound"

10:06 Minuten
Gitarrist Charlie Burchill und Sänger Jim Kerr von den Simple Minds stehen auf einer Kozertbühne.
Die Simple Minds im Jahr 1984: Charlie Burchill (l.) und Jim Kerr auf der Bühne im London Lyceum © imago / Future Image
John Reed im Gespräch mit Martin Böttcher |
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Die CD-Sammlung "Big Gold Dreams" feiert die Geschichte der schottischen Independent-Musik von 1977 bis 1989. Mit dabei sind Bands wie "Simple Minds" oder "Waterboys". Die Stücke klingen immer noch frisch und aktuell, sagt Herausgeber John Reed.
Martin Böttcher: Wir sprechen hierzulande gerne von britischer Popmusik, aber auf den britischen Inseln würde das als krasse Pauschalisierung abgetan - wahrscheinlich vor allem von den sehr stolzen Schotten. Die sind allerdings auch zurecht stolz auf ihre Popmusik, hat doch britischer Independent-Pop nach Meinung vieler ihren Ursprung in Schottland.
Legendär ist das Glasgower Label Postcard Records, das nur zwei Jahre existierte, aber drei extrem wegweisende Bands hervorbrachte, nämlich Orange Juice, Aztec Camera und Josef K. Daneben, und auch später, gab es viele, viele andere Bands, deren Namen heute nicht so stark leuchten, und die man jetzt auf einer CD-Box entdecken kann: "Big Gold Dreams - Scottish Independent Music 1977-1989". Ich habe vor der Sendung mit John Reed gesprochen, der die Box kuratiert hat.
Im Booklet wird der amerikanische Pophistoriker Simon Reynolds zitiert mit den Worten: "Independent Music, wie wir sie kennen, wurde in Schottland erfunden". Kann man das so sagen?
John Reed: Das ist natürlich immer eine Frage der Perspektive. Ich würde wahrscheinlich eher sagen, dass Independent Musik ihren Anfang in Manchester genommen hat, mit den Buzzcocks.
Aber man kann schon sagen, dass das Label Postcard Records in Glasgow das geprägt hat, was in den 80er-Jahren als Indie-Pop bekannt wurde. Postcard steht wie kein anderes Label für diesen bestimmten Sound, der definitiv nicht Rock ist, sondern sehr stilbewusst, Kunst-affin, ironisch und sehr verspielt. Und auf gar keinen Fall betont maskulin.

Historisch: Punkkonzert von The Clash

Böttcher: Als eine Geburtsstunde dieser Independent-Musik gilt das Konzert von der Punkband The Clash 1977 in Edinburgh, angeblich waren die späteren Akteure der schottischen Indie-Szene alle bei diesem Konzert. Immer wieder wird von solchen epochalen Punkkonzerten berichtet, aber es ist doch wohl nicht so, dass nach einem einzigen Konzert plötzlich lauter junge Leute sich Instrumente zulegen und großartige, inspirierte Musik machen. Oder?
Reed: Das ist für mich eine Art von Poesie, so einen historischen Punkt zu markieren. Hätten The Clash dieses Konzert nicht gegeben, hätten viele der Musikerinnen und Musiker sicher trotzdem ihre Inspiration gefunden. Auf jeden Fall war die erste Welle der Punkbands, also The Clash, Sex Pistols und The Damned, extrem inspirierend für junge Menschen in der Provinz.
Man muss sich das heute noch mal klarmachen: Wenn man damals ein junger Mensch in Glasgow war, hatte man kaum Aussicht auf ein aufregendes Leben. Und diese Musik war ein echter Kulturschock, etwas wahnsinnig Aufregendes, und: alle, die diese Musik gehört haben, wussten sofort: Das kann ich auch!
Dieses Konzert war also sehr wichtig, genau wie das legendäre Punkkonzert im Londoner 100 Club im Jahr 1976. Aber natürlich sind später bei solchen Konzerten immer viel mehr Leute dabei gewesen, als an dem Abend wirklich dabei waren.

Lokale Musikszenen in Edinburgh und Glasgow

Böttcher: Warum konnte die schottische Musikszene in den späten 70er-Jahren so sehr aufblühen?
Reed: So groß war diese Szene ja gar nicht. Aber vorher spielte die Musik fast komplett in London. Es gab ja auch kaum Musikstudios außerhalb Londons, und nur wenige Plattenlabels hatten eine Niederlassung außerhalb der Hauptstadt.
Und plötzlich haben die Leute angefangen, ihre eigenen kleinen Labels zu gründen, in Edinburgh und Glasgow. Es sind überhaupt erst lokale Szenen entstanden, und das war sehr wichtig: Bis dahin wurde die britische Popmusik-Geschichte in London geschrieben, und darum hatten die neuen Bands so eine starke Identität, denn sie sind aus einem ganz anderen Kontext entstanden.
Auch damals haben die meisten schottischen Bands noch bei Londoner Labels unterschrieben, Altered Images haben bei CBS unterschrieben, Orange Juice waren zwar bei Postcard, sind dann aber zu Polydor gewechselt. Aber die meisten von ihnen haben weiterhin in Schottland gelebt und sich nicht den Einflüssen Londons ausgesetzt.
Böttcher: Wie wichtig ist für die schottische Musik die Abgrenzung zu England, wie schottisch-patriotisch ist diese Musikszene?
Reed: Ich denke dass alle Künstlerinnen und Künstler, die Sie auf "Big Gold Dreams" finden, sich mit Leidenschaft als Schottinnen und Schotten verstehen. Das hat sich aber nicht unbedingt auf die Musik niedergeschlagen. Mir fallen nur sehr wenige Songs ein, in denen es zum Beispiel um die schottische Unabhängigkeit geht.
Es geht vor allem um das Bewusstsein und die Pflege der lokalen Szene. Ein Haufen Bands, die sich gegenseitig inspiriert haben anstatt die Einflüsse aus den Popmetropolen aufzunehmen. Sie haben Konzerte organisiert, Fanzines herausgegeben, alles sehr Do-It-Yourself. In Schottland war auch der Independent-Gedanke wichtig, wir haben uns als das rauere Gegenteil begriffen, wir hatten den dreckigeren Sound.
Die schottischen Bands haben nicht unbedingt revolutionäre Musik gemacht. Sie waren vom Stil her nicht die Pop-Avantgarde. Aber diese Musik hatte einen ganz besonderen Charme und ein ausgeprägtes Gespür für Melodien. Man merkte auch einen bestimmten katholischen Einfluss. Ich glaube, überall, wo solche starken regionalen Szenen entstehen, gibt es aufregende Musik zu hören.

"Das Ende der Pop-Ära ist erreicht"

Böttcher: Letztes Jahr gab es im National Museum Of Scotland in Edinburgh eine große Ausstellung zur Geschichte der schottischen Popmusik. Nun erscheint Ihre große Box. Warum erinnert man sich jetzt an dieses große Erbe?
Reed: Ich glaube, wir befinden uns an dem Punkt, den die Band Pop Will Eat Itself mit ihrem Namen vorweggenommen hat: Das Ende der Pop-Ära ist langsam erreicht. Zeitgenössischer Pop ist noch mal was anderes, aber das klassische Narrativ des Pop ist am Ende. Jetzt schauen wir zurück.
Und für die Menschen, die heute in ihren 40ern und 50ern sind, die mit dieser Musik aufgewachsen sind, hat das immer noch eine Faszination, und sie möchten die Bands aus dieser Zeit kennen lernen, die sie noch nicht kennen. Und diese Musik klingt ja immer noch frisch und aktuell, was ja auch daran liegt, dass sich viele zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler an dieser Musik orientieren. Sie ist immer noch relevant.
Böttcher: Ihre Compilation endet 1989 - warum?
Reed: Wir hätten auch mit dem Jahr 1988 aufhören können. Für so eine Zusammenstellung braucht man eine Geschichte. Mit dieser Box erzählen wir eigentlich drei Geschichten: die des schottischen Punk, der gar nicht so besonders war, aber der das alles angestoßen hat.
Dann die frühen 80er-Jahre, mit den ikonischen Labels wie Postcard. Und dann passiert ja noch mal etwas ganz Neues, Mitte der 80er-Jahre, ausgehend von Bellshill, einem Vorort von Glasgow. The Jesus And Mary Chain kommen von dort, die c86-Bands, die Soup Dragons oder Teenage Fanclub. Das waren alles kleine Explosionen in Schottland.
Unsere Box ist ja inspiriert von zwei Dokumentarfilmen des Regisseurs Grant McPhee, der auch beratend für uns gearbeitet hat. Sein erster Film über die schottische Musikszene der frühen 80er-Jahre heißt "Big Gold Dreams", daher der Name, übrigens nach einem Song der Band Fire Engines.
Sein zweiter Film heißt "Teenage Superstars", er handelt von der zweiten Welle schottischer Independent-Bands, und wir wollten beides abbilden. Darum schien uns 1989 ein vernünftiger Endpunkt, und natürlich auch, weil es das Ende des Jahrzehnts ist.

Die übersehenen Kapitel der Vergangenheit aufschlagen

Böttcher: Wie steht es um die schottische Popmusik heute?
Reed: Ich bin vielleicht nicht der Richtige, um diese Frage zu beantworten. Ich stecke ja bis über beide Ohren in der Vergangenheit. Ich habe mir jetzt diese ganze Musik von vor 30, 40 Jahren angehört, Sachen, die kaum jemand kennt, und musste entscheiden, was auf die Box soll.
Sicher gibt es heute auch aufregende Musik aus Schottland. Es ist nur so viel schwerer heute, damit Geld zu verdienen. Aber letztendlich haben die meisten der Bands auf "Big Gold Dreams" auch kein nennenswertes Geld mit ihrer Musik verdient. Man kann vielleicht darauf hoffen, dass sich in 30 Jahren die Leute auch noch an die Musik von heute erinnern werden, oder sie erst entdecken.
Und das war ja auch unser Projekt: Die übersehenen Kapitel der Vergangenheit aufzuschlagen und die Sachen ans Licht zu holen, die heute fast niemand mehr kennt, und die anzuhören sich wirklich lohnt.
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