CDU

Mit Friedrich Merz kehrt das Drama in die Politik zurück

04:20 Minuten
Der CDU Politiker Friedrich Merz richtet seine Coronamaske, 2020.
Dass Merz im Lockdown einen Parteitag forderte, wirkte sehr selbstbezogen, meint Stefan Reinecke. © Getty / Lukas Schulze
Ein Kommentar von Stefan Reinecke · 09.11.2020
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Wohltemperiert und kompromissorientiert: In der deutschen Politik ist die Mitte zum mythischen Ort geworden, perfekt verkörpert durch die Kanzlerin. Mit der Rückkehr von Friedrich Merz ist das vorbei. Das hat auch sein Gutes, meint Stefan Reinecke.
Politik kommt in der Bundesrepublik ohne viel Pomp und Pathos aus. Das Theatralische, Suggestive, das übertrieben Feierliche stehen schnell unter Verdacht. Nur einem deutschen Kanzler, Helmut Schmidt, konnte es einfallen, sich selbst als leitenden Angestellten der Republik zu bezeichnen – ein Satz, den französische Präsidenten als Majestätsbeleidigung empfinden würden.
Bundesdeutsche Politik ist nüchtern. Diese betonte Sachlichkeit ist noch immer ein Echo des Nationalsozialismus, der politische Leidenschaften demagogisch entfesselte und in das totale Desaster führte.

Politik als gütlicher Kompromiss

Politik ist hierzulande kein Kampf, kein Drama, kein agonales Ringen – sondern gütlicher Kompromiss, der in der Mitte gefunden wird. Die Mitte, in der die Leidenschaften abgekühlt sind, ist der mythische Ort bundesdeutscher Politik. Man mag es lau. Die geordnete Welt der Sachentscheidung, die von keinen Emotionen oder keinen Egotrips getrübt wird, verkörpert niemand so perfekt wie Angela Merkel.
Merkel hat Politik als technokratische Disziplin zwar nicht erfunden – aber niemand zuvor hat dieses Konzept so konsequent umgesetzt wie sie. Dazu gehört auch, dass die Macht frei von Charisma ist. Die Mächtige ist Amt, kein dramenfähiger Charakter. Es ist kein Zufall, dass Angela Merkel nur im Notfall "Ich" sagt.
Jetzt geht die untheatralische Merkel-Ära zu Ende. Und es drängt ein Gespenst aus der Vergangenheit aus dem Bühnenhintergrund nach vorne. Unrecht ist ihm vor 17 Jahren geschehen. Die Wunde schwelt noch immer. Die Kanzlerin hat damals dreist den Platz eingenommen, der für ihn vorgesehen war. Jetzt ist die Stunde der Rache gekommen. Mit dem Helden, der sehr oft "Ich" sagt, kehren in der Merkel-Ära vergessene emotionale Zustände zurück: Streit, Hitzigkeit, öffentliche Anklagen.

Zu viel Ego – damit eckt Merz bei vielen an

Friedrich Merz hat sich in einer kühnen Volte zum Anführer einer nicht näher definierten Basis erklärt. Er klagt bitter das Parteiestablishment an, das ihn von der Macht fern halten will – schon wieder.
Das kommt bei der Presse nicht so gut an. Ich, Ich, Ich, scheint Merz zu sagen – zu viel Ego, schallt ihm als Antwort entgegen. Merz aber hält es mit Schiller und Wallenstein: "Wer nichts waget, der darf nichts hoffen."
Das Stück, das hier aufgeführt wird, ist mehr als eine Egoshow. Die Lage der CDU ist ernst – denn sie hat etwas einer "Jekyll & Hyde"-Partei. So lange die innere Hierarchie klar und die Macht gesichert ist, funktioniert sie störungsfrei. Doch wenn eine lange Ära vorbei ist, werden eruptiv bislang gebundenen Kräfte freigesetzt. Adenauer hatte drei erfolglose Nachfolger, nach Kohls Abgang 1998 folgten harte innere Kämpfe. Die CDU – moderat, verlässlich, mittig, immer etwas langweilig – verwandelt sich in solchen Momenten in die Arena erbitterter Konkurrenzen. Die Nachfolge scheint nur in zähem Diadochenkampf geregelt werden zu können. Für den geordneten Übergang ist die CDU nicht gemacht.

Nur eine tragikomische Figur aus der Vergangenheit?

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer warnte, es mit dem Machtringen bloß nicht zu übertreiben. Dabei wirkt sie wie die Grundschullehrerin, auf die die Jungs, die sich auf dem Pausenhof prügeln, einfach nicht hören wollen. Jetzt haben sich Armin Laschet, Merz und Norbert Röttgen auf ein Datum für den Parteitag verständigt. Doch ob das Verfahren rechtssicher ist, ist unklar. Der Kampf ist jedenfalls nur vertagt, nicht gelöst.
Im Lockdown unbedingt einen Parteitag zu fordern, wirkte wenig weitblickend und sehr selbstbezüglich. "Rache trägt keine Frucht!" heißt es in Schillers Tell. Ist Merz nur eine tragikomische Figur, die sich 20 Jahre zu spät in das falsche Stück verlaufen hat?
Man wird sehen. Sicher ist, dass mit Merz das Drama, dass Sieg und Niederlage auf offener Bühne in die schläfrige Christdemokratie zurückgekehrt sind.
Für die Demokratie ist das nicht schlecht.

Stefan Reinecke, geboren 1959, ist seit 15 Jahren als Redakteur und Publizist in Berlin tätig, u. a. als Redakteur beim "Tagesspiegel" und bei der "taz", für die er derzeit als Autor arbeitet. Mehrere Buchveröffentlichungen, zuletzt eine Biografie von Christian Ströbele.

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