Ein selten gehörter Jubelsturm
Merkel überzeugt und siegt − doch das nahezu einstimmige Votum des Parteitags zu ihrer Flüchtlingspolitik verschleiert, wie weit Skepsis und Zweifel in der CDU verbreitet sind, meint Stephan Detjen.
Mit einer Reihe von Kompromissformeln hatte die CDU-Spitze bereits gestern den Weg zu der Geschlossenheit gebahnt, die die Partei heute in Karlsruhe demonstrierte. Und doch bedurfte es dazu heute auch eines bemerkenswerten Auftrittes Angela Merkels, der zu den stärksten ihrer politischen Laufbahn gehört. Die Vorsitzende zog ihre Partei mit einer kämpferischen Rede in ihren Bann. Sie appellierte an das historische Gewissen der CDU und machte den Delegierten Mut, sich mit einem selten gehörten Jubelsturm hinter dem Credo der Vorsitzenden zu vereinen: "Wir schaffen das."
Dennoch verschleiert das nahezu einstimmige Votum, mit dem der Parteitag den Antrag zur Flüchtlingspolitik annahm, wie weit Skepsis und Zweifel in der CDU nach wie vor verbreitet sind. Sie kamen in der mehrstündigen Debatte zum Ausdruck, die der Rede Merkels folgte - ohne sich im formalen Abstimmungsergebnis widerzuspiegeln. Die CDU bewährt sich damit einmal mehr als politischer Kompromissgenerator und Integrationsapparat: Auf Parteitagen wie dem in Karlsruhe findet ein breites Spektrum von Positionen Raum. Am Ende aber findet die Partei zusammen, wenn sie sich hinter starken und erfolgversprechenden Führungsfiguren versammeln kann.
Maximale Spannbreite von unterschiedlichen Positionen
Vor allem dadurch grenzt sie sich in diesen Tagen von der SPD ab, die sich bei ihrem Parteitag Ende letzter Woche auf die unseligste Tradition der Sozialdemokratie besann und allen innerparteilichen Unmut auf der Person des Vorsitzenden abwarf. Die CDU hat damit ein leichtes Spiel. Sie verkörpert ein Erfolgsmodell deutscher Politik, dem die SPD weder methodisch noch politisch eine echte Alternative entgegenzustellen vermag.
Beide Regierungsparteien bewegen sich und ihre Politik in einem gemäßigten, innerparteilichen Selbstgespräch voran. Die wichtigsten Themen der Zeit werden nicht in einer Zuspitzung parteipolitischer Gegensätze abgearbeitet. Stattdessen bekräftigen CDU und SPD in mehr oder weniger gleicher Diktion den Generalkonsens, der die deutsche Politik auch in der Flüchtlingspolitik stabilisiert. Die SPD verlangt "Handlungen und Maßnahmen", mit denen die "aktuelle Lage nachhaltig geordnet und Zuwanderung kontrolliert und gesteuert werden kann". Die CDU gesteht zu, dass "ein Andauern des aktuellen Zuzugs Staat und Gesellschaft auf Dauer überfordern würde". Das ist die maximale Spannbreite von unterschiedlichen Positionen, die die großen Volksparteien in der jetzigen Debatte markieren können.
Das Beispiel Frankreich lehrt, was einer Demokratie droht
Von Karlsruhe aus bedarf es nur des Blicks in das wenige Kilometer entfernte Frankreich, um diese ungewöhnliche aber auch gefährdete Stabilität des politischen Systems in Deutschland schätzen zu lernen. Nur aus purer Not schlossen sich dort die einstigen Volksparteien bei den Regionalwahlen am Wochenende zu einem informellen Abwehrbündnis gegen den rechtsextremen Front National zusammen. Das Beispiel Frankreich lehrt in diesen Tagen zugleich, was einer Demokratie droht, wenn Parteien die Integrationskraft verlieren, die die CDU heute noch einmal demonstriert hat.