Cécile Wajsbrot: "Zerstörung", Roman
Aus dem Französischen von Anne Weber
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
236 S., 20 Euro
Schritt für Schritt zur Diktatur
06:25 Minuten
Buchhandlungen werden geschlossen, Gedenktafeln abmontiert, Kunst- und Sprachunterricht abgeschafft. Cécile Wajsbrot erzählt in "Zerstörung" von der schrittweisen Etablierung einer Diktatur.
Eine Erzählerin, die ihr Leben bisher hauptsächlich mit Lesen und Schreiben verbracht hat, sieht sich genötigt, an einem Experiment teilzunehmen. Man hat sie dazu verpflichtet, ein "Logbuch in Tönen" anzufertigen: ohne Autozensur das Wort zu ergreifen, für sich und "für die, die nicht reden". Wer die kontemplative Existenzform der Erzählerin beendete, bleibt undeutlich. Es gibt kein fleischliches Gegenüber, sondern nur eine fragende, fordernde Stimme, die sich in Abständen bei der Erzählerin meldet und anmahnt, sie solle ihr Denken transparent machen.
Das Leben in der Gegenwart hat an Geschmack verloren
Der Roman "Zerstörung" entfaltet einen seltsamen Sog. Cécile Wajsbrot erzählt von der "Vorwegnahme einer Zukunft" und zeigt, wie das Leben in der Gegenwart jedweden Geschmack verloren hat. Es ist bezeichnend, dass die Autorin jedem der fünf Romankapitel kurze Texte voranstellt, die auf seltene, nicht terrestrische Vorkommnisse rekurrieren – etwa auf die Sonnenfinsternis, die Adalbert Stifter am 8. Juli 1842 beobachtete oder auf Zwangslagen, die einem Menschen die Augen für andere Welten öffneten.
So wurde der Sozialtheoretiker und Kommunarde Louis-Auguste Blanqui im Gefängnis zum Planeten- und Sternenforscher. Hinter diesen Miniaturen scheint Arthur Koestlers "Sonnenfinsternis" auf. Auch Wajsbrot versucht, das ideologisch Böse in ihrer Narration subtil spürbar werden zu lassen. Es besäße die Macht, das Leben auf unserem Planeten zu verderben.
Niemand darf planlos verweilen
Cécile Wajsbrot ist eine geschichtsbewusste Schriftstellerin. Man kann ihr Buch als eine Reaktion auf einen europaweit zu beobachtenden, oft aggressiv vorgetragenen Überdruss an Gedenkanlässen lesen. Dazu kommt die Infragestellung der Kunstfreiheit. Es gibt Romanpassagen, die unausgesprochen auf die Folgen der 2015 in Paris verübten Morde in der Charlie-Hebdo-Redaktion, im Supermarkt Hyper Cacher und im Musikklub Bataclan abzielen.
"Wir taten so, als glaubten wir, dass die Soldaten, die in Vierer- oder Achtertrupps die Straßen durchstreiften, uns beschützen würden, während sie uns doch nur an Uniformen gewöhnten und an Waffen." In "Zerstörung" hat eine repressive Führung angeordnet, dass auf Straßen niemand mehr stehenbleiben und planlos verweilen darf. Das Essen unter freiem Himmel ist verboten. Der öffentliche Raum wird leergefegt. Die Erzählerin flüchtet sich nach Berlin, wo jedoch auch kein dauerhaftes Bleiben ist.
Die Vergangenheit als ein einziges Gefängnis
Der Gefahr, verzweifelt-larmoyant zu klingen, entgeht die Autorin durchweg. Hier und da bezichtigt sich die Erzählstimme, "zu selbstverständlich" gelebt zu haben. Fassungslos registriert sie Maßnahmen, die Menschen ihrer persönlichen Geschichte berauben. So zwingt ein Kommando Bürger dazu, die von Generation zu Generation weitergereichten Fotoalben zur Vernichtung herauszurücken. An Häusern werden Gedenktafeln abmontiert.
Die Vergangenheit, will man den Leuten glauben machen, sei ein einziges Gefängnis. Das Wort "Zerstörung" ist tabu. Man schwärmt stattdessen vom Glück, "Platz zu schaffen". Buchhandlungen werden geschlossen, Kunst- und Sprachunterricht abgeschafft. Museen verlieren ihren Bestand, Theater werden nur mehr für Festlichkeiten und "Meetings" genutzt.
Stimmen, die wie Barken gegen die Strömung schwimmen
Der Schrecken über die schrittweise Etablierung einer Diktatur ist jeder Zeile dieses Zukunftsromans eingeschrieben. Weil die Vorstellung aber unsäglich niederdrückend ist, gibt Cécile Wajsbrot ihre im "Logbuch" lose festgehaltenen Gedanken über die neue autoritäre Zeitordnung schlussendlich als "eine Art Traum" aus. Wir sind gewarnt. So beklemmend die Lektüre ist, enthält sie doch auch wundervolle Aperçus.
Die stehen nur scheinbar für sich selbst. Subtile Botschaften sind ihnen eingewebt. Der allgemeinen Zerstörung setzt Cécile Wajsbrot Stimmen entgegen, die wie Barken "gegen die Strömung schwimmen, sich in Gewächs, in tief in die Sümpfe eintauchenden Wurzeln verfangen, an menschenleeren Inselufern anlegen und dazu bestimmt sind, am Fluss der Toten entlangzuirren."