Cédric Herrou: "Ändere deine Welt. Wie ein Bauer zum Fluchthelfer wurde"
Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Andrea Stephani
Rotpunktverlag, Zürich 2022
264 Seiten, 24 Euro
Ein Aussteiger krempelt Frankreich um

2016 wird Cédric Herrou eher unfreiwillig zum Flüchtlingshelfer. Am Ende half der Franzose über 2500 Menschen. Nach langen juristischen Streitigkeiten stellte auch Frankreich fest: Unentgeltliche Flüchtlingshilfe ist keine Straftat.
Das Szenario ist malerisch schön und hinterhältig zugleich: Das französische Royatal ist nur über Ventimiglia in Italien oder über unwegsame Berge, über das französische Sospel erreichbar. Für Flüchtlinge wird dieses Gebirgstal zwischen Italien und Frankreich zur Falle.
Genau hier wird der Aussteiger Cédric Herrou, beflügelt durch seine Aversion gegen alles, was eine Uniform trägt, eher unfreiwillig zum Fluchthelfer. 2016 liest er eine afrikanische Flüchtlingsfamilie am Straßenrand auf, lädt sie in sein Auto und nimmt sie mit zu sich. Im Jahr davor hatte die französische Regierung die Grenzen dichtgemacht.
"Man begegnete vielen Eritreern und Sudanesen, die auf der Flucht vor Krieg und Diktatur waren", erzählt Herrou. "Sie kamen nicht mehr weiter. Da haben wir reagiert, unsere Türen geöffnet und diese Menschen bei uns aufgenommen."
Mittlerweile Anfang 40 hatte Herrou sich schon in fast allem versucht: Automechaniker, Seefahrer, Gelegenheitsarbeiter. Am Ende erwarb er ein heruntergekommenes Berggrundstück im Royatal, wurde Olivenbauer - und eben zum Helfer für Flüchtlinge.
Neuer Atem für die Revolte
Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben. „Dieses Buch ist eine Chronik dieses Kampfes, voller Dramatik und Komik, Zärtlichkeit und Wut. Das Royatal wurde nicht zufällig zum Zufluchtsort; es gehört zu jener Geografie der Revolte, die es im Hinterland von Nizza schon immer gegeben hat.“ Das schreibt kein geringerer als der Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio in seinem Vorwort.
Herrou hat der Revolte neuen Atem eingehaucht. Aufgewachsen ist er im Vorort Ariane von Nizza. Seine Freunde waren Araber und Afrikaner. Der eher schmächtige Mann mit Bart und runden Brillengläsern gibt sich völlig unprätentiös, sowohl im Radiointerview wie auf den 263 Seiten seines mit viel Humor und Seitenhieben gegen die Staatsanwaltschaft und immigrationsfeindlichen Politiker geschriebenen Selbstporträts.
Flüchtlingen zu helfen ist keine Straftat
Dabei könnte sich Herrou damit brüsten, die französische Verfassung geändert zu haben, zumindest indirekt durch seinen kontinuierlichen Kampf mit der Justiz.
Elf Mal war ich in Polizeigewahrsam, fünf Mal wurden mein Haus und Grundstück durchsucht, vier Jahre lang lief ein Ermittlungsverfahren gegen mich, zwei Jahre lang bewachten Gendarmen mein Grundstück. Der französische Staat hat meine Aktionen mit aller Härte verfolgt. Am Ende gelang es uns aber, dass das Prinzip der Brüderlichkeit anerkannt wurde.
Am Ende eines jahrelangen Prozesses, so beschreibt es Cédric Herrou, haben zunächst der Conseil d’État als oberstes Gericht 2018 und später die Verwaltungsgerichte vor gut einem Jahr entschieden: Unentgeltliche Hilfe für Flüchtlinge ist keine Straftat.
Neben Freiheit und Gleichheit hat damit auch das Prinzip der Brüderlichkeit Eingang in die französischen Gesetze gefunden.
Auch die Abschiebung von minderjährigen Flüchtlingen, wie sie jahrelang praktiziert wurde, wurde letztendlich von den Gerichten verboten: Jeden Sieg gegen den für die Grenzregion zuständigen Präfekten kommentiert Herrou nicht ohne eine gewisse Schadenfreude.
Mehr als 2500 Personen hat Herrou geholfen, erzählt er im Interview. Er hat sie aus Italien nach Frankreich gebracht, zeitweise bei sich auf dem Grundstück in der Gebirgslandschaft zwischen Frankreich und Italien zelten lassen.
In Cannes gab es wegen seines Films Ärger
Das Letzte was Herrou will, ist mit solchen Zahlen prahlen. Er ist eher zurückhaltend, beschreibt auch, dass er die Medien eigentlich hatte meiden wollen, sie letztendlich aber für seinen Kampf gegen die Justiz und Politik brauchte.
Nur deshalb, so schreibt er in einem der 55 kurzen Kapitel seines Buches, hat er auch zugestimmt, einen Dokumentarfilm drehen lassen. Süffisant stellt er die Situation dar, als die Versuche der Behörden scheitern, den Film mit dem Titel "Libre" vom Festival in Cannes zu verbannen und ihm und seinen Mitstreitern den Zugang zu verwehren.
"Wir haben uns zwei Tage als Pinguine verkleidet, trugen also Smoking, und sind die Stufen des Festivalpalastes hochgelaufen. Das hat dem Präfekten nicht besonders gefallen."
Der Film, das ist unstrittig, macht Herrou auch weit über die Landesgrenzen bekannt. Er nährt Sympathien, aber auch Antipathien.
Gute Flüchtlinge, schlechte Flüchtlinge
Was Cédric Herrou am meisten stört, und das zieht sich wie ein roter Faden durch sein Buch, ist der Rassismus in Frankreichs Einwanderungspolitik.
"Die Ukrainekrise zeigt das doch. Natürlich freuen wir uns sehr, dass Frankreich Flüchtlinge aus der Ukraine aufnimmt und Kriegsopfern hilft. Das macht uns sehr glücklich. Dieser Politikwechsel beweist allerdings auch, dass nicht der Zustrom von Menschen aus dem Ausland das Problem ist, sondern der Zustrom von Schwarzen und Arabern wird als störend empfunden."
In der Tat, wenn selbst die rechtsextreme Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen Bereitschaft zeigt, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen.
Im Royatal ist es jedenfalls etwas ruhiger geworden. Als Herrou seine Biografie verfasste, war von Ukrainekrise noch keine Rede. An der Grundproblematik freilich ändert das nichts. Nicht alle Personengruppen sind in Frankreich willkommen.
Schreiben ohne erhobenen Zeigefinger
Herrou kämpft weiter, setzt Akzente. Mit Emmaüs Roya hat er eine Landwirtschaftskooperative in Anlehnung an das karitative Werk des legendären Abbé Pierre auf seinem Grundstück gegründet. Menschen mit und ohne Papiere sind willkommen, arbeiten gemeinsam nachhaltig und ökologisch.
"Ändere deine Welt" hat Herrou sein Buch genannt. Er hat seine Welt geändert. Herrou schreibt darüber ohne den erhobenen Zeigefinger, völlig unprätentiös wie er auch mir bei den Interviews begegnet ist. Beim Titel habe er sich an seine Mutter erinnert, sagt er: "Als Jugendlicher war ich wütend auf die Welt. Meine Mutter sagte mir damals: Bevor Du die Welt veränderst, ändere erst einmal Deine Welt." Cédric Herrou scheint das gelungen.
Rassismus als Krankheit
Mit seinem Buch appelliert er an unser Gewissen und vor allem daran, den auch bei Helfern präsenten Rassismus abzulegen. "Der Rassismus ist eine Phobie, eine Krankheit. Man braucht keine Angst davor zu haben. Man kann sie mit ein wenig Anstrengung kurieren. Wenn man auf den anderen zugeht, dann lässt sich der Rassismus recht leicht heilen."
Ob dann eines Tages dunkelhäutige Menschen auf der Flucht genauso willkommen sind wie die kriegsgeplagten Ukrainer?