Vom starken Wind auf Menorca
Seit den 50er-Jahren verbringt Cees Nooteboom mehrere Monate im Jahr auf Menorca. Nun hat der niederländische Schriftsteller und Nobelpreiskandidat mit "533 Tage - Berichte von der Insel" ein wunderbar leichtes und zugleich tiefsinniges Tagebuch vorgestellt.
Eine Bar in einem Hamburger Hotel. Ein Fernsehteam packt sein Equipment ein. Gerade eben hat es Cees Nooteboom zu seinem neuen Buch "533 Tage. Berichte von der Insel" interviewt. Es werden noch Höflichkeiten ausgetauscht. Aber der Gesichtsausdruck des niederländischen Autors spricht eine andere Sprache: Er ist verärgert über das Interview, fühlt sich, wie er später gesteht, oberflächlich befragt. Und das bei einem Buch, in dem es besonders um präzise Beobachtung geht.
Auf seinem Grundstück auf der Insel Menorca stellt Nooteboom fest, dass er nichts über die Kakteen und Schildkröten weiß, die ihn umgeben. Voller Demut blickt er auf sie und versucht sie in angemessene Worte zu fassen.
Seine Palmen nennt er liebevoll "Familienangehörige". Die Begegnung mit einer außergewöhnlichen Motte erfüllt seinen Tag. "Wann ist etwas ein Ereignis?" fragt Cees Nooteboom den Leser und zuerst einmal sich selbst.
"Ich war dabei, als die Mauer gefallen ist. Ich war dabei, als die Russen die Grenze zu Ungarn geschlossen haben. Also das nennen wir Ereignisse. Nur ist es so, dass, wenn man eine längere Zeit da ist und die ganz großen Ereignisse im Fernsehen geschehen, aber nicht mehr vor deinen Füßen, dann sieht man auch das Kleinere. Zum Beispiel, wenn ein Kaktus zum ersten Mal blüht, das ist auch ein Ereignis."
Angenehm unprätentiös
Ereignisse sind für Nooteboom auch ein wachsender Pilz und ein starker Wind auf Menorca, wo er seit mehr als 50 Jahren immer wieder lebt und in Ruhe schreibt. Von August 2014 bis Januar 2016 hat der Autor, unterbrochen durch Reisen und einen längeren Aufenthalt in Süddeutschland, ein lockeres Inseltagebuch geführt.
Auf wunderbar leichte und zugleich tiefsinnige Weise lässt Nooteboom darin seinen Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen freien Lauf. Die Möwen an der Küste von Menorca erinnern den Autor an seinen von deutschen Bomben in Den Haag getöteten Vater. Daran, wie der Vater in einem Winter voller Hunger auf dem Dach stand und versuchte, Möwen zu fangen. Wohl, um sie dann zu essen. Eine unvergessliche Stelle dieses angenehm unprätentiös daherkommenden Buchs.
Das verrät auch, dass Nooteboom ein Sternengucker ist, einer, der seit 1977 den Weg der Raumfahrtsonden Voyager I und II durch das All verfolgt.
"Ich glaube, die meisten Menschen, die ich kenne, haben die Dinger schon längst vergessen. Aber die sind noch immer da. Dem ersten Stern wird der Voyager in 40.000 Jahren begegnen. Dann versteht man, wie klein wir sind und wie groß das ist. Wenn das irgendeine Bedeutung hat …"
"Verborgen im Dunkel der mediterranen Nacht"
Hat es eine Bedeutung? Cees Nooteboom gibt wenige Antworten und stellt dafür umso mehr Fragen in diesem unaufgeregten, geradezu weisen Buch. Philosophische Fragen wie "Wo befinden wir uns, während andere Menschen von uns träumen?" Die Werke vieler Kollegen geistern durch diese "Berichte von der Insel", Bücher von Peter Esterházy, Elias Canetti, Jorge Luis Borges und Dante zum Beispiel.
Das Private lässt der Autor privat, konzentriert sich lieber darauf, den Ruf der Zwergohreule adäquat zu beschreiben:
"Es ist ein sehr geheimnisvoller Laut, und wenn man aufmerksam lauscht, hört man die gleich klingende Antwort, nur leiser, ein Geräusch, das zur Nacht gehört und zur Jagd, ein Ruf, der den Tod von Käfern, anderen Kerbtieren und Spinnen ankündigt. Er ruft, sie antwortet, ich werde in eine unsichtbare Intimität einbezogen, verborgen im Dunkel der mediterranen Nacht."
"Puh … puh … puh."
Cees Nooteboom ahmt den Eulenruf nach und schafft für wenige Sekunden das Unmögliche: Man wähnt sich in einer Nacht auf Menorca, hier in der Bar des lauten Hamburger Hotels. Eigentlich wollte sich Nooteboom in seinen Berichten ganz auf die Insel und den Blick nach innen konzentrieren. Aber die Probleme der Außenwelt, die Finanzkrise in Griechenland, der islamistische Terror, die Angst der Menschen vor dem Fremden, schaffen sich dann doch einen winzigen Raum in diesem Buch, beinahe gegen den Willen des Autors. "Bis zu welchem Alter muss man sich um die Welt kümmern?" fragt er.
"Ja, wie lange ich noch muss, das weiß ich sowieso nicht. Ich bin jetzt 83. Dann sitzt man dort. Natürlich kann man die Welt nicht vergessen. Ich war ein Befürworter der europäischen Einheit. Was wird jetzt aus diesem Traum? Dann denkt man schon mal: Das wird schon kommen. Das machen die dann schon. Ich bleibe jetzt hier und pflege meine Kakteen."
Am 23. Oktober um 19 Uhr stellt Cees Nooteboom "533 Tage. Berichte von der Insel" im Deutschen Theater in Göttingen vor.