Arbeit am kollektiven Gedächtnis
Nach 27 Jahren hat das Berliner Centrum Judaicum eine neue Chefin: die deutsch-israelische Historikerin Anja Siegemund. Wer ist die Neue? Was wird sich unter ihrer Leitung ändern? Wir haben Siegemund getroffen.
Anja Siegemund: "Da hat es mich interessiert, dass so viele Jeckes nach Haifa gegangen sind, ohne dass das irgendwie größer in Forschungen thematisiert wurde. Nicht die Forschungen fortzufahren, die man bisher gemacht hat, und die haben sich vor allem darauf bezogen, welchen Beitrag haben die Jeckes zum Aufbau des Staates Israel geleistet. Das Ganze war auch immer so ein bisschen Rechtfertigungsgeschichte von Seiten der Jeckes, die in Israel immer so ein bisschen in der Kritik standen."
Anja Siegemund, 1967 im oberbayrischen Seefeld geboren, liegt die Geschichte der deutschsprachigen Juden besonders am Herzen. Nach ihrer Promotion in München ging sie 2002 nach Haifa, um dort die Biografien der Jeckes genauer zu erforschen.
Die Oral History steht für sie im Vordergrund
"Von denen gesagt wurde, ihr kamt ja gar nicht freiwillig nach Palästina und ihr seid nur geflüchtet, ihr seid keine Zionisten, ihr habt nicht Hebräisch gelernt und so weiter. Ich wollte wegkommen von der Perspektive der Jeckes selber, gegen solche Angriffe. Oder man kann es auch kollektives Gedächtnis in Israel nennen. Dann sehr oft immer betont haben ihren Beitrag zum Aufbau des Staates, in Architektur und Medizin, in Sozialarbeit, in der Akademie, der Wissenschaft und so weiter. Aber ich wollte wegkommen, dass man die Geschichte und ihre Geschichte darauf reduziert, sondern viel mehr andere Perspektiven hereinbringen. Also das Klischee, die Jeckes waren alle pünktlich, und die Jeckes waren alle aus dem Mittelstand, und waren alle sehr bürgerlich und haben Hebräisch nicht gelernt. Ich wollte die Vielfalt zeigen, auch die Vielfalt der Generationen, auch die Vielfalt der Weltanschauungen und auch die Vielfalt des Lebens, das sie dort führten."
Für sie steht die Oral History, die Erzählungen der Zeitzeugen, im Vordergrund. Auch als Direktorin des Leo Baeck Instituts in Jerusalem, das sie bis jetzt sechs Jahre lang leitete, war für sie die Geschichte der Juden Deutschlands ein wichtiger Forschungsschwerpunkt. Eine günstige Zeit, ist doch Deutsch mittlerweile alles andere als verpönt. Produkte, Made in Germany, bis zur deutschen Hauptstadt sind in Israel längst populär.
"Ich hab mit meinem Sohn immer Deutsch gesprochen, auch in Israel, und ich hatte nie das Gefühl, dass ich das nicht machen kann. Das ist jetzt auch ein bestimmtes Segment der israelischen Gesellschaft. Es sind eher die Jüngeren, es sind eher die Säkularen. Und die wollen nach Berlin, weil in ihrer Vorstellung ist Berlin in irgendeiner Weise das, was ihnen in Israel fehlt. Berlin: liberal, Berlin: Hype, Berlin: kein Militär, Berlin: günstig. Und es gibt aber auch innerhalb der israelischen Gesellschaft skeptische und kritische Stimmen. Es kommt drauf an, mit wem man spricht. Das ist dann so ein Berlin-Hype, das hätte es vor 30 Jahren so noch nicht gegeben."
"Die Dauerausstellung umzuarbeiten ist sehr, sehr nötig"
Nun also kehrt Anja Siegemund nach 13 Jahren Israel mit ihrem Sohn und Lebensgefährten nach Deutschland zurück. So ganz neu ist ihr Berlin aber nicht. Sie hatte als Studentin bereits in der Gedenk- und Bildungsstätte "Haus der Wannseekonferenz" Seminare, Gesprächskreise und Führungen geleitet. Nun übernimmt sie das Centrum Judaicum. Und da führe sie erst einmal fort, was ihr Vorgänger hinterlassen und bereits vorbereitet hat.
"Was richtig ist und was nicht von mir stammt, sondern was längst von dem Haus hier, das heißt, von Hermann Simon und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern so angestoßen wurde, ist tatsächlich die Dauerausstellung umzuarbeiten, was sehr, sehr nötig ist. Allein in technischer Hinsicht gibt es großen Handlungsbedarf, neue Lichtinstallationen, Fußböden, Sicherheitsinstallationen und so weiter."
Insofern sei auch die durch den Senat versprochene Erhöhung des Zuschusses um 100.000 Euro auf nunmehr 520.000 Euro zwar erfreulich, aber nicht ausreichend. Die Mittelbeschaffung wird damit auch künftig eins ihrer Tätigkeitsfelder sein müssen. Aber die neue Stelle ist für sie ein Glücksgriff. In Berlin kann sie fast nahtlos an ihre bisherige Forschungsarbeit anknüpfen. Auch an der Oranienburger Straße wird künftig die Darstellung der Jeckes großgeschrieben werden, verspricht die neue Leiterin Anja Siegemund.
"Anfang Oktober haben wir eine Ausstellungseröffnung über Heinz Fenchel. Heinz Fenchel war ein Berliner, der in irgendeiner Weise die Moderne der Weimarer Republik verkörperte. Er war Filmarchitekt und ist dann nach Palästina migriert und hat dann als Architekt gearbeitet von großen Hotelbauten und so weiter. Das Centrum Judaicum hat sich immer bemüht, kleine Mosaiksteine zu finden, mit denen es eine große Geschichte erzählen kann. Biografien von einzelnen Menschen, etwas Alltagsgeschichtliches, Juden im Kino, Juden im Sport. Das glaube ich ist wichtig und das ist eine Geschichte, die wir mit unseren Wechselausstellungen weiter machen sollten."