César Rendueles: Soziophobie. Politischer Wandel im Zeitalter der digitalen Utopie
Aus dem Spanischen von Raul Zelik
Suhrkamp, Berlin 2015
262 Seiten, 18 Euro
Die düstere Welt der Cyberfetischisten
Das Internet fördert den Austausch unter Freien und Gleichen? Mitnichten, schreibt der Soziologe César Rendueles in seinem Buch "Soziophobie", vielmehr führe das Internet zur Erosion sozialer Bindungen. Und diese Gesellschaftsphobie führt er auf den Kapitalismus zurück.
Was passiert mit uns, wenn wir täglich über Twitter und Facebook kommunizieren? Welche Folgen hat das für unser Innenleben und unseren Umgang mit anderen, und was bedeutet das für die Gesellschaft? Und schließlich: Welchen Stellenwert nimmt die digitale Utopie in unserer Zeit ein, die oftmals als Krise des Kapitalismus beschrieben wird?
Mit diesen Fragen setzt sich der spanische Soziologe und Kapitalismuskritiker César Rendueles in seinem Buch "Soziophobie" auseinander. Er sucht nach neuen Antworten auf Fragen der Linken wie Antikapitalismus, Emanzipation, weltweite Gemeinschaft, Überwindung von Grenzen, soziale Gleichstellung, politische Autonomie, Egalitarismus.
Gibt es im 21. Jahrhundert neue Erkenntnisse? Durchaus: Rendueles konfrontiert den Leser mit einem Phänomen, das er als "Cyberfetischismus" bezeichnet. Cyberfetischisten erlägen dem Irrtum, dass das Internet ein Heilmittel für alle politischen Probleme der Linken sei, dass es die Menschen in bisher noch nie gekanntem Ausmaß vernetze, einen Austausch unter Freien und Gleichen ermögliche, Unabhängigkeit fördere und demokratisiere.
Doch Rendueles macht unmissverständlich klar, dass dieser Schein trügt: Das Internet sei gerade kein Ort der herrschaftsfreien Kommunikation geworden, sondern habe zu einer neuartigen, extremen "Erosion sozialer Bindungen" geführt. Vorherrschend sei ein Zustand der Soziophobie.
Rendueles' Vision bleibt vage
Aus der Sicht von Rendueles ist diese Entwicklung wenig überraschend. Sie sei ein Erbe des Liberalismus, für ihn der ideologische Überbau des Kapitalismus. Die "Gesellschaftsphobie" sei ein zentrales Motiv liberalen Denkens. Der Prozess der Entsolidarisierung und Vereinsamung durch soziale Netzwerke erscheint somit nicht als neuartige Entwicklung. Neu ist für Rendueles jedoch das Ausmaß dieser Erosion.
Fragile Subjekte mit fragmentierten Identitäten, entfremdete, kaputte Menschen in einem kaputten Leben – das ist das düstere Bild, das Rendueles von der postmodernen Gesellschaft der Cyberfetischisten zeichnet. In erster Linie macht er dafür den uferlosen Konsumismus verantwortlich, dem alle frönten, obwohl sie unter seinen Auswüchsen zu leiden hätten. Gleichzeitig führe das Wissen um diese Abgründe des "Kasinokapitalismus" dazu, dass die Menschen jegliche politische Veränderung scheuen und lieber im Zustand der Soziophobie verharren, als den Verlust zu riskieren, der mit jeder Abweichung vom Bisherigen einherzugehen droht.
Rendueles will sich damit jedoch nicht zufrieden geben. Das Allheilmittel gegen diese "Fremdbestimmung durch die Märkte" im – gescheiterten! – "real existierenden Kapitalismus" sieht er in der demokratischen Deliberation, also der unter allen Bürgern ausgetragenen öffentlichen Diskussion "jeder gesellschaftlichen Angelegenheit". Doch wie das konkret aussehen soll, bleibt weitgehend unklar. So erhellend seine Analysen vor allem dort sind, wo die Interdependenzen zwischen Kapitalismus, Cyberutopismus, Gemeinschaft und Identität herausgearbeitet werden, so vage bleibt Rendueles' Vision, wie wir es denn künftig besser machen können.