"Chabrol ist der große Soziologe des französischen Kinos"

Katja Nicodemus im Gespräch mit Jürgen König |
Der französische Regisseur Claude Chabrol wurde als "Chronist der Bourgeoisie" tituliert. Zusammen mit Godard, Truffaut und Rivette zählt er zu den Begründern der Nouvelle Vague. Filmkritikerin Katja Nicodemus findet es bewundernswert, "dass jemand über Jahrzehnte hinweg so ein Niveau hält".
Jürgen König: "Chronist der Bourgeoisie", "schlimmster Feind der französischen Bourgeoisie", "Dinosaurier des französischen Kinos" - das sind so die Etiketten, mit denen Claude Chabrol im Laufe der Jahrzehnte geschmückt wurde. Rechnet man die Fernsehproduktionen mit, so hat Claude Chabrol seit 1959 mehr als 80 Filme gedreht, in den letzten Jahren zumeist mit seiner Lieblingsschauspielerin Isabelle Huppert. Seine Arbeiten laufen immer noch regelmäßig auf internationalen Festivals. Heute wird Chabrol, das Urgestein des Kinos, 80 Jahre alt. Im Studio begrüße ich jetzt Katja Nicodemus, die Filmkritikerin der "Zeit" - und eine Chabrol-Verehrerin?

Katja Nicodemus: Auf jeden Fall. Also eigentlich habe ich heute morgen gedacht, müsste man Chabrol zum Geburtstag einen Strauß Blumen schicken oder in seinem Fall wäre es wahrscheinlich dann eher eine gute Flasche Wein, so ein Bordeaux von 1989 oder so.

König: Sehr gut. Bevor wir weitersprechen, hören wir ihn doch selbst, den Jubilar Claude Chabrol, und lassen ihn uns verraten, worum es ihm im Kino eigentlich geht.

Claude Chabrol: "Es geht nicht darum, den Zuschauer zu irritieren, sondern darum, ihn zu stören. Es so zu machen, dass er das, was er für die Wahrheit hält, infrage stellt. Er soll sich seiner selbst nicht so sicher sein."

König: Der französische Filmregisseur Claude Chabrol in einem Interview mit Katja Nicodemus. Wie ist das, ihn zu treffen, was ist das für ein Mann?

Nicodemus: Also, es ist eigentlich sehr, sehr lustig zuerst mal, weil er ist ein unglaublich heiterer, geistreicher, immer zu kleinen Seitenhieben und Sarkasmen aufgelegter Mann, und er sitzt da immer mit so einer Pfeife, wie so ein Buddha, pafft ein bisschen, und man kann mit ihm wunderbar auch über Wein und Essen reden. Also er ist ein wirklicher Gourmet, ein Genussmensch, ein Bonvivant. Und er sucht auch seine Drehorte übrigens immer danach aus, ob in der Gegend ein sehr, sehr gutes Restaurant ist, wo dann stundenlang Mittag gemacht wird.

König: Gehen wir mal ein Stück zurück in diesem Geburtstagsgespräch. Claude Chabrol ist zusammen mit zum Beispiel Jean-Luc Godard oder Jacques Rivette oder François Truffaut ein Mitbegründer der Nouvelle Vague. Welche Rolle nahm er ein in dieser sagen wir Regisseursbewegung, die ja die Filmgeschichte dann maßgeblich geprägt hat?

Nicodemus: Ja, die Nouvelle Vague war ja so eine Art Regierungskabinett, in dem dann jeder Regisseur so eine Art Minister für besondere Aufgaben war, also Jean-Luc Godard, der Theoretiker, der Vordenker, der intellektuelle Provokateur, Jacques Rivette war zuständig für die Geheimnisse von Paris, für die verwunschenen Filme, Truffaut für die Liebe und die Leidenschaft, und Claude Chabrol ist eben der große Soziologe des französischen Kinos, wobei eben, was seine Gesellschaftskritik betrifft, er sich sehr auf das Bürgertum konzentriert hat - vom Kleinbürgertum bis zur Großbourgeoisie. Und ja, im Laufe von einem halben Jahrhundert und über 60 Filmen zeigt er eben die sexuelle Gier, die Spuren der Gewalt, die Verwüstungen, die Korruptionen dieser Klasse.

König: Der Chronist der französischen Bourgeoisie, auch der schlimmste Feind der Bourgeoisie hat man ihn genannt, einen Störenfried, einen dauernden Verunsicherer - das hört man nun schon seit Jahrzehnten über ihn. Wie kann man denn als Chronist nur einer einzigen Gesellschaftsklasse alt werden? Ich meine, wiederholt man da sich nicht irgendwann?

Nicodemus: Ja, Chabrol selbst sagt ja, er hat überhaupt nichts gegen Bürger und Großbürger. Er sagt, die duschen sich, mit ihnen kann man gute Gespräche führen, die sind eigentlich angenehme Menschen. Aber er sagt, warum er sich so lange mit dieser Schicht beschäftigt, hängt eben damit zusammen, weil das Bürgertum in Frankreich einfach eine ungeheure Macht hat und eben die politische Oberschicht stellt, die kulturelle Elite, das Finanzwesen beherrscht. Und er sagt, man muss den Bürgern eben auf den Zahn fühlen.

Und seine stärksten Filme hat er eben auch in der Zeit gemacht, in der Bourgeoisiekritik en vogue war, und da entstanden eben seine sarkastischsten und auch tiefsten Filme - eben "Das Biest muss sterben" 1968, dann "Die untreue Frau" und "Der Schlachter" von 1970. Da hat er in drei Jahren hintereinander ganz, ganz großartige Filme gedreht, die wirklich in die französische Provinz gingen und zeigten, dass hinter der Fassade, hinter der Harmlosigkeit des Bürgertums sich eine Welt von Verbrechen, von glatter Korruption, von Verwahrlosung sich eigentlich auftut.

Und auf der anderen Seite ist aber, muss man sagen, dass dieses Verbrechen bei ihm jetzt nichts Herausragendes hat. Das ist nicht eine Ausnahme, sondern das ist eigentlich ein Symptom einer allgemeinen Verwahrlosung, das sozusagen nach außen gekehrt wird. Da sind jetzt aber nicht die Exoten, die Verbrecher. Und das ist eigentlich toll, dass er sich diesen kritischen Blick auf diese französische Gesellschaft über die Jahrzehnte hinweg bewahrt hat.

Andererseits aber gibt er auch zu, dass er auch gerne mal was ganz anderes machen würde. Und ich habe ihn in einem Interview mal gefragt: Wie würde denn der Film aussehen, den Sie jetzt sozusagen ganz konträr zu Ihren bisherigen Filmen drehen würden, was würden Sie sich da vorstellen?

Chabrol: "Ich würde wahnsinnig gerne eines Tages einen Film über einen amerikanischen Schwarzen drehen, den der Zuschauer zu Beginn verurteilt, weil er irgendwo am Mississippi 95 Menschen getötet und dann verspeist hat. Und den am Ende des Films alle mögen würden. So was würde mich begeistern, denn das würde den Leuten gut tun. Weil man ihnen zu verstehen geben würde, dass alles nicht so einfach ist."

König: Diesen Film würde man natürlich gerne mal sehen. Bei allem Respekt, Frau Nicodemus, Claude Chabrol ist nicht unumstritten, Fassbinder zum Beispiel, Rainer Werner Fassbinder nannte ihn mal einen Insektenforscher und meinte damit, dass er sich, wie soll ich sagen, zu viel ums Kleinklein gekümmert hätte und weniger ums große Ganze. Was sagen Sie dazu?

Nicodemus: Ja, Fassbinder hat ja einen interessanten Aufsatz geschrieben eben über Chabrol, und da vergleicht er ihn mit einem Kind, das so einen Glaskasten in der Hand hält und diesen Glaskasten dreht und wendet und diese schönen, exotischen Insekten sich anschaut und die ausstellt, aber eben nicht dahinter guckt oder sie nicht wirklich untersucht, nicht genug jedenfalls. Und Fassbinders Vorwurf lautet eben, dass Chabrol eigentlich gar nicht so ein richtiger Forscher ist, sondern dass er einfach nur ausstellt und dass er die bürgerlichen Werte eben nicht abklopft, um sie zu überwinden, sondern letztlich, um sie zu erhalten, also dass er ein affirmativer Künstler sei, der den Status quo erhalten will.

Und da hat Fassbinder, muss man sagen, recht und auch unrecht, weil leider muss man sagen, dass Claude Chabrol oft ein sehr schlampiger Regisseur ist, ein sehr wurschtiger Regisseur, ein sehr fauler Mensch, eben weil er ein Bonvivant ist und sich nicht ...

König: Weil die Restaurants so dicht dabei sind?

Nicodemus: ... sich nicht immer wirklich Mühe gibt. Und in manchen Filmen, da rotzt er eben seine Bourgeoisiekritik einfach so hin, und da haben diese Filme keine Haltung. Also ein gutes Beispiel ist eben vor ein paar Jahren "Geheime Staatsaffären" mit Isabelle Huppert, da spielt die eine ehrgeizige Staatsanwältin, aber da filmt dann Chabrol diese Großbürger und Konzernchefs halt in Ledersesseln, die intrigrieren so ein bisschen, und letztlich interessiert ihn das alles gar nicht mehr. Er schaut einfach nur Isabelle Huppert zu. Das stimmt natürlich, das ist dann eben einfach im Grunde affirmativ.

Andererseits ein Gegenbeispiel, auch mit Isabelle Huppert - die hat ja auch in "Violette Nozière", einem frühen Chabrol-Film gespielt -, da spielt sie eine Elternmörderin, eine Frau, die ihre beiden Eltern vergiftet aus Habgier, nur weil sie ein bisschen Schmuck und schöne Kleider sich kaufen will. Und andererseits, wie Chabrol dann diese Frau zeigt, in ihrer Kleinheit, in ihren Sehnsüchten, in ihren Abgründen, was er da für ein Mitgefühl erweckt mit diesem Bösen immer wieder in seinen Filmen, da muss man sagen, es ist eben doch ein Regisseur, der sich für die Menschen interessiert. Und es ist vielleicht interessanter zu zeigen, dass diese Bösen Menschen sind und wie sie Menschen sind, statt zu zeigen, wie sie zu dem geworden sind, was sie sind, was eben Fassbinder von ihm fordert. Insofern ist Chabrol eben doch in seinen guten Filmen jemand, der sich doch für die condition humaine interessiert.

König: Wenn Sie schon so ins Detail gehen, was die Filme angeht, was für ein Stilist ist Chabrol, was zeichnet ihn aus, was macht ihn so einzigartig, und, gelingt es ihm bei so vielen Filmen - eigentlich muss das ja so sein -, dass er sich immer wieder neu erfindet?

Nicodemus: Er erfindet sich nicht neu, man muss sagen, dass er sich auf einem unglaublich hohem Niveau wiederholt. Also Claude Chabrol steht wirklich für eine ganz große Eleganz der Kamerasprache, und innerhalb dieser Eleganz gelingt es ihm, einen ganz großen Sarkasmus und wirklich einen messerscharfen Blick zu entwickeln. Man muss sagen, es gibt eigentlich in jedem, auch wenn mittelmäßigen oder auch mal schlechten Chabrol-Film immer mindestens eine Szene, die in Erinnerung bleibt.

Also um mal ein Beispiel zu nennen: "Die Blumen des Bösen", gar nicht so alt, irgendwie fünf, sechs Jahre, da geht es um eine großbürgerliche Familie, die ein Geheimnis unter den Tisch kehrt, also aus der Nazizeit noch. Und der Film beginnt mit einem Mittagessen am Tisch dieser Familie, und es wird gegessen, gekochter Aal, also was ziemlich Ekliges, und die Art, wie die Kamera über den Tisch geht und diese Familienmitglieder zeigt, wie sie diesen Aal essen - da sieht man sofort, wer Dreck am Stecken hat.

Oder aus seinem jüngsten Film noch ein Beispiel, eigentlich ein langweiliger Film mit Gerard Depardieu, ein Krimi - da interessiert sich auch Chabrol überhaupt nicht für das Drehbuch, aber im Hintergrund sieht man die Ehe des Regisseurs, "Kommissar Bellamy", gespielt von Gerard Depardieu, und da sieht man eine Szene, wie dieser Kommissar mit seiner Frau nach dem Essen spült. Und das gelingt eben Chabrol dann so zu filmen, mit der Kamera um die beiden Köpfe herum, die Hände, die Eintracht eines Ehepaars, das seit 30 Jahren verheiratet. Und das bleibt dann aus diesem Film in Erinnerung und nicht die ganze Intrige.

Und man muss sagen, es gibt auch eine wirklich sehr lustige Szene, wenn man weiß, worum es geht, nämlich in "Die Farbe der Lüge". Da geht es um einen Maler, um einen überhaupt nicht talentierten Maler, der am Strand seine Staffelei aufstellt und eigentlich überhaupt nur schreckliche Bilder malt. Und natürlich ist das sozusagen ein selbstironisches Zitat des Stilisten Claude Chabrol, der sich mit diesem mittelmäßigen Maler identifiziert, der einfach schon von einem Lichtwechsel völlig irritiert ist.

Filmszene: "Warum restaurierst du nicht Bilder? Heute lässt sich doch nur noch das 19. Jahrhundert verkaufen, das 18. vielleicht noch, alle wollen was Altes."
"Scheiße, das war's, man sieht nichts mehr. Was soll's - es ist verpfuscht, verpfuscht, verpfuscht."

Nicodemus: Ja, also die Leute wollen immer nur das Alte sehen, immer die gleichen Chabrols, und der Chabrol verpfuscht seine Filme. Wobei man sagen muss, dass selbst ein verpfuschter Film von einem 80-jährigen Claude Chabrol, finde ich, ist immer noch besser als 90 Prozent der Filme, die heutzutage so ins Kino kommen.

König: Wir haben zu Beginn unseres Gesprächs Claude Chabrol gehört, sein Credo sozusagen. Da hat er gesagt, es geht nicht darum, den Zuschauer zu irritieren, sondern darum, ihn zu stören und es so zu machen, dass er das, was er für die Wahrheit hält, infrage stellt. Also, der Zuschauer solle sich seiner selbst nicht so sicher sein. Ist das sein Credo bis heute geblieben?

Nicodemus: Ich glaube eben, in seinen besten Szenen ja, in seinen Drehbüchern insgesamt nicht mehr, da geht es ihm wirklich, glaube ich, insgesamt bisschen sehr ums Mittagessen. Das große Ganze hat er ein bisschen aus dem Blick verloren, aber in den einzelnen Szenen, wo er zur Höhe aufläuft, würde ich sagen, da gelingt es ihm immer noch, Personen so zu zeigen, wie wir sie nicht erwartet haben.

König: Aber er dreht immer noch weiter, er ist ein Arbeitspferd?

Nicodemus: Hoffen wir es, ja.

König: Hat er eigentlich Schule gemacht oder ist er so einzigartig, dass sich keiner wirklich was abgucken kann?

Nicodemus: Absolut, also es gibt wohl kaum einen Regisseur der Nouvelle Vague, der neben Godard einen so großen Einfluss hatte. Zum Beispiel Christian Petzold, ein deutscher Regisseur, sagt, Chabrol sei sein ganz großes Vorbild. Also eigentlich sehr, sehr viele Regisseure, die sich irgendwie mit Sozialkritik beschäftigen, zum Beispiel auch Sam Mendes, "American Beauty" in den Vereinigten Staaten, da fällt immer wieder der Name Claude Chabrol.

König: Was mögen Sie so an dem? Sie wirken dem Chabrol so sehr zugetan.

Nicodemus: Ich bin alten Männern verfallen, die tolle Filme machen.

König: Sie sind alten Männern ver..., ach so.

Nicodemus: Nein, das muss man einfach auch anerkennen, dass jemand über Jahrzehnte hinweg so ein Niveau hält, dem es gelingt sozusagen, einer Gesellschaft, die sich so sehr verändert hat wie die französische, immer noch einen filmischen Blick entgegenzusetzen und die sozusagen zu sezieren und zu demontieren, das finde ich einfach absolut bewundernswert.

König: Dann wünschen wir Claude Chabrol, dass er das noch möglichst lange wird tun können. Der französische Filmregisseur Claude Chabrol wird heute 80 Jahre alt. Herzlichen Glückwünsch! Und herzlichen Dank an Sie! Katja Nicodemus war das, die Filmkritikerin der "Zeit". Ich danke Ihnen!

Nicodemus: Gerne!
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