Chaim Grade: "Von Frauen und Rabbinern", Zwei Erzählungen
Übertragen aus dem Jiddischen mit Anmerkungen und einem biografischen Essay bereichert von Susanne Klingenstein
Die Andere Bibliothek, Berlin 2020
420 Seiten, 44 Euro
Fromme und nicht ganz fromme Juden
06:20 Minuten
Chaim Grade ist einer der wichtigsten Autoren jiddischer Literatur. Zum ersten Mal ist er nun auf Deutsch zu entdecken. Seine Erzählungen "Von Frauen und Rabbinern" führen in die Welt der jüdischen Dörfer und Gebetsschulen.
Vilnius, die litauische Hauptstadt, hat so wenig mit dem alten Wilna vor dem Zweiten Weltkrieg zu tun wie das heutige Prag mit der Stadt Franz Kafkas. Liest man Geschichten aus Wilna, begibt man sich auf eine Zeitreise, bei der man eine weitaus größere Distanz zurücklegt als bloß die letzten 80 Jahre.
Generationen jüdischer Gelehrter in Wilna
Wilna, das "Jerusalem des Nordens", war vor allem für die jüdische Bevölkerung eine Lebensform. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Stadt, deren Bedeutung durch Generationen von jüdischen Gelehrten über die Jahrhunderte gewachsen war, auch ein Zentrum der zionistischen Bewegung. Es entstand das erste Jüdische Museum, ein paar Jahre später das YIVO, ein akademisches Institut zum Studium ostjüdischer und jiddischer Kultur, das auch die jiddische Sprache standartisierte.
In den 1920er-Jahren gab es in Wilna jiddische Verlage und Druckereien; mehrere jiddische Tages- und Wochenzeitungen, Theater und Kinos. In dieser Zeit spielen die beiden Erzählungen von Chaim Grade. 60.000 Juden lebten damals in Wilna. Grade selbst ist dort 1910 geboren. Mit Mitte 20 publizierte er sein erstes Buch, er begann als Lyriker und wurde zu einem der wichtigsten Autoren der jiddischen Literatur.
Titelerzählung für Pulitzerpreis nominiert
Jetzt ist es möglich, ihn zu entdecken. Zum ersten Mal wurde er nun ins Deutsche übertragen - von der deutsch-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein – mit Kenntnisreichtum, Gespür, Feinheit und Wärme. Ihr kann man diese herausragende Arbeit kaum genug danken.
"Von Frauen und Rabbinern" vereint einen 60-seitigen biografischen Essay zu Leben und Werk des Dichters mit zwei seiner späten Erzählungen. Die Titelerzählung war 1982, Grades Todesjahr, für den Pulitzerpreis nominiert.
Prediger zum Karrieremachen gedrängt
Beide Erzählungen führen in die Welt der jüdischen Dörfer und Gebetsschulen, hinein in den Alltag frommer und nicht ganz frommer Juden, in die Familien und Synagogen, in eine religiöse Praxis, die viele Arten des Glaubens und seiner Auslegung kennt.
In der ersten Erzählung wird ein schlichter Prediger vom Lande von seiner Frau gedrängt, Karriere zu machen. Er gerät in die innerjüdischen Streitigkeiten unterschiedlicher Religionsschulen und Mentalitätskonflikte, stiftet ungewollt weiteren Zwist und gibt unter dem Einfluss seiner ehrgeizigen Rebbezin, einer Mischung aus Xanthippe und des Fischers Frau, sein Seelenheil preis.
Handfeste, poetische Bilder
In der zweiten Erzählung zeichnet Grade das vielfältige jüdische Leben in einem Wilnaer Wohnhof. Ein milder Rabbiner und strenggläubige Asketen treffen hier aufeinander, Freidenker und Orthodoxe. Immer geht es um das Miteinander – oder Gegeneinander – von Positionen. In der Familie, zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Strenggläubigen und Modernen. Um die Frage, wann religiöse Praxis der Herzensbildung entgegensteht. Es geht um die Ethik des Glaubens.
Atmosphärisch dicht, emotional intensiv, in lebendigen Dialogen, mit großem psychologischem Gespür, vielfachen Verweisen auf die talmudische Literatur und "saturnischer Melancholie" hebt Chaim Grade die Welt auf, die ihn geprägt hat, und die unwiderruflich in nur wenigen Jahren zerstört wurde. Seine Sprache ist ohne Sentimentalität, ohne ironische Distanz. Aber voller Leben und handfester, poetischer Bilder. "Sein Hirn glühte wie ein Kessel, der noch auf dem Feuer stand, obwohl das Wasser schon lange daraus verdampft war."