Chancen-Aufenthaltsrecht

Warum Bayern gegen das neue Gesetz ist

10:59 Minuten
Der Bayerische Innenminister Joachim Herrmann spricht mit erhobener Hand vor zwei Mikrofonen.
Bayern zeigt sich hart gegenüber dem Bleiberecht für Ausländer. Doch ein Urteil aus dem Jahr 1999 könnte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) zum Umdenken bewegen. © picture alliance / dpa / Felix Hörhager
Von Lisa Weiß |
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Möglichst niemand soll abgeschoben werden, der unter das kommende Chancen-Aufenthaltsrecht fallen könnte. Das ist die Anweisung vieler Bundesländer an ihre Ausländerbehörden. In Bayern gilt das bisher nicht – doch ein altes Urteil könnte das ändern.
Ein Montag. Gut 180 Menschen ziehen in einem Protestzug durch die Würzburger Innenstadt, vorbei am Rathaus und über die alte Mainbrücke. Ziel ist das Verwaltungsgericht. Hier wird am Protesttag über einen Eilantrag entschieden. Wenn das Gericht den ablehnt, wird Osaivbie E. am nächsten Tag nach Nigeria abgeschoben. Die Demonstrierenden solidarisieren sich mit dem 20-Jährigen: „Weil ich das unmöglich finde, das ist so eine Behördenwillkür. Mir tut der junge Mensch so leid.“
Demonstranten protestieren gegen die Abschiebung. Sie tragen ein Banner mit der Aufschrift "
Demonstranten protestieren in Würzburg gegen die Abschiebung des Nigerianers Osaivbie E.© Lisa Weiß
„Weil diese ganze Abschiebung, die geplant wird, nicht mit rechten Dingen zugeht. Und weil es wichtig ist, dass die Zivilgesellschaft bei so was aufsteht, wir nicht so in Nationalgrenzen denken.“

Abschiebung trotz guter Integration

Seitdem der junge Mann als 16-Jähriger aus Nigeria geflüchtet ist, hat er sich in Deutschland aufgehalten. Nach seinem Schulabschluss hat Osaivbie eine Ausbildung als Pflegehelfer begonnen – er ist gut integriert, würde die Anforderungen für das geplante Chancen-Aufenthaltsrecht locker erfüllen, sagt seine Anwältin Mara Ortler, spezialisiert auf Migrationsrecht.
Zurück zu den Demonstrierenden vor dem Würzburger Verwaltungsgericht. Nach gut einer Stunde verkündet Osaivbies Freundin Elisa: „Ich habe grad die Nachricht von der Anwältin bekommen: Der Antrag ist durch und er wird morgen nicht abgeschoben.“ Dass die für Osaivbie zuständige Zentrale Ausländerbehörde nur wenige Stunden später Beschwerde gegen die Entscheidung einreichen wird, wissen sie da noch nicht. Die Hängepartie für den 20-Jährigen geht also weiter.

Gezielte Ausweisung bestimmter Flüchtlinge?

Aus der Sicht seiner Rechtsanwältin Mara Ortler ist die Abschiebepraxis des Freistaats derzeit noch rigoroser als sonst. „Jetzt konzentriert es sich aus meiner Sicht stark aufs Herkunftsland Nigeria, das beobachte ich schon."

Dass viele Familien oder Betroffene, die unter das Chancen-Aufenthaltsrecht fallen, unter die Räder geraten, kann ich mir schon vorstellen – ob es aktiv betrieben wird? Ich hoffe es nicht.

Rechtsanwältin Mara Ortler

Versuchen die Ausländerbehörden in Bayern, versucht die bayerische Staatsregierung gezielt, Menschen abzuschieben, die unter das geplante Chancen-Aufenthaltsrecht fallen könnten? Nachgefragt bei denen, die mit solchen Fällen dann konfrontiert wären – den Flüchtlingshilfsorganisationen. Der Bayerische Flüchtlingsrat wirft einigen Ausländerbehörden im Freistaat vor, strategisch zu handeln, um Menschen noch schnell loszuwerden.
Und Stephan Reichel von der kirchlichen Hilfsorganisation Matteo sagt: „Ich kenne an die 100 Fälle, wo wir ableiten können, dass da die Ausländerbehörden in Bayern und die bayerische Staatsregierung Interesse haben, dieses Chancen-Aufenthaltsrecht schon von vornherein zu behindern und auch später nicht umzusetzen.“

Regeln, die zu Illegalität führen

Reichel nennt ein Beispiel: Abdullah K. aus Wertingen. Der Sierra-Leoner sei seit 5 Jahren im Land, bestens integriert, ein Fall für das neue Chancen-Aufenthaltsrecht. Immer wieder habe Abdullah K. versucht, sich einen Pass zu beschaffen, aber das sei von Deutschland aus nicht möglich gewesen – sierra-leonische Pässe könne man nur im Land beantragen, so Reichel.
Ohne Pass aber kann Abdullah K. nicht legal reisen. Abdullah K. würde dann wegen Passlosigkeit angezeigt. Mit einer Vorstrafe aber wäre es für Abdullah K. unmöglich, vom Chancen-Aufenthaltsrecht zu profitieren, sagt Reichel.
Das zuständige Landratsamt Dillingen hält es weiterhin für möglich, sich einen sierra-leonischen Pass zu beschaffen, selbst, wenn man im Ausland ist. Und schreibt: "Eine Anzeige erfolgt nicht, wenn alle Schritte zur Passbeschaffung unternommen worden sind. Im Fall von Herrn K. (…) wurden keinerlei Nachweise vorgelegt, dass er sich um eine Passausstellung oder Klärung seiner Identität bemüht hätte."
Wie viele Fälle das in Bayern sind, darüber liegen für das Jahr 2022 noch keine Zahlen vor, heißt es aus dem bayerischen Innenministerium. Das Ministerium ist ferner der Ansicht: Ausländer, die keinen Pass haben, müssen versuchen, sich einen zu besorgen, ansonsten machen sie sich strafbar. Die Ausländerbehörden seien dazu verpflichtet, solche Fälle dann anzuzeigen.  

Strategische Abschiebung in Bayern?

Aber – was bedeutet das jetzt? Versucht Bayern, Menschen möglichst noch schnell abzuschieben, bevor das Chancen-Aufenthaltsrecht in Kraft tritt?

Davon kann keine Rede sein, ich kann das jetzt nicht für jede einzelne der 96 Ausländerbehörden in Bayern sagen, ob da irgendjemand einen besonderen Mitarbeiter mit solchen Intentionen hat. Insgesamt, als Linie, vor allen Dingen von uns im Innenministerium aus, gibt es da überhaupt nix.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann

Was das bayerische Innenministerium aber sehr deutlich macht: Bayern hält von dem geplanten Chancen-Aufenthaltsrecht nichts. Damit würden Geduldete privilegiert, die allein deshalb noch nicht abgeschoben werden konnten, weil sie an der Klärung ihrer Identität nicht mitgewirkt hätten und nicht freiwillig ausgereist seien.

Neues Problem durch neues Gesetz?

Mit dem einjährigen Chancen-Aufenthaltsrecht würden keine Probleme gelöst, sondern neue geschaffen, so eine Sprecherin des Innenministeriums. Man befürchtet dort eine massive Belastung der Sozialsysteme.
Ein Besuch bei Anna Frölich, Rechtsanwältin, auch sie spezialisiert auf Migrationsrecht. Das Chancen-Aufenthaltsrecht beschäftigt auch sie: „Also unser Mandant, dieser äthiopische Staatsangehörige, fällt zu 100 Prozent unter dieses Chancen-Aufenthaltsrecht. Weil er arbeitet, gearbeitet hat, weil er Deutsch spricht, weil er einen Pass vorgelegt hat und weil er keine Straftaten begangen hat.“
Trotzdem saß Muhamed B. einige Zeit in Abschiebehaft. Vor über acht Jahren ist er nach Deutschland gekommen, lebte zuletzt geduldet in Garmisch-Partenkirchen, sagt Anna Frölich. Er habe sich um einen äthiopischen Pass bemüht – eine sehr langwierige Angelegenheit, weil vorher seine Geburtsurkunde und die Einträge im äthiopischen Geburtenregister überprüft und geklärt werden mussten.

Revidierte Zusage über Bleiberecht

„Es ist aufgrund der Aktenlage so, dass es einen Aktenvermerk gibt, in der Ausländerakte, dass dem äthiopischen Staatsangehörigen mitgeteilt wurde, soweit er einen Pass beibringt, kann seine Beschäftigungserlaubnis auf jeden Fall weiter verlängert werden. Und mündlich wurde ihm, auch unter Zeugen, mitgeteilt, dass er praktisch eine gute Prognose hat, wenn er den Pass bringt für andere aufenthaltsrechtliche Möglichkeiten, wie unter anderem das Chancen-Aufenthaltsrecht, wie Paragraph 25b Aufenthaltsgesetz, weil er so lange da ist.“
Aber es kam anders. Als Muhamed B. seinen Pass endlich bekommen und bei der Ausländerbehörde vorgelegt hatte, bekam er im Nachgang ein Schreiben der Ausländerbehörde: Seine Arbeitserlaubnis könne jetzt verlängert werden, bis Ende April 2023, er solle vorbeikommen, damit diese Erlaubnis eingetragen werden könne.
Das entsprechende Dokument liegt Deutschlandfunk Kultur vor. Kurze Zeit später sei der Äthiopier in Abschiebehaft genommen worden, sagt seine Anwältin: „Aufgrund der Tatsache, dass wir eine neue Gesetzgebung anstehen haben, für dieses sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht, ist es schon sehr, sehr fragwürdig, was hier passiert ist. Also meines Erachtens ist der Fall grob rechtswidrig.“
Das Landratsamt Garmisch-Partenkirchen antwortet auf Anfrage recht knapp: In dem Schreiben an Muhamed B. sei noch mal darauf hingewiesen worden, dass er ausreisepflichtig sei. Der Person sei kein Aufenthaltsrecht zugesichert worden. Die Ausländerbehörde sei verpflichtet gewesen, die Abschiebung einzuleiten.

Gesetz ist noch nicht verabschiedet

In anderen Bundesländern wie Hessen, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz gibt es diese Strenge nicht. Sie haben ihre Ausländerbehörden angewiesen, möglichst keine Menschen abzuschieben, die unter das kommende Chancen-Aufenthaltsrecht fallen könnten. Damit die Menschen, für die das Gesetz gedacht sei, auch davon profitieren könnten.
So großzügig ist man in Bayern bisher nicht. Innenminister Joachim Herrmann sagte Anfang November, so zu tun, als gäbe es dieses Gesetz schon, sei zu spekulativ, um dazu etwas zu sagen: „Weil irgendetwas von der Bundesregierung angekündigt worden ist, wozu der Bundestag bis heute kein Gesetz beschlossen hat? – Dafür gibt es keine Rechtsgrundlage."

Hilfe durch ein altes Gerichtsurteil

Es könnte aber möglicherweise doch eine Art Rechtsgrundlage geben: Ein offenbar lange Zeit übersehenes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1999. Das Gericht hatte damals geurteilt, dass Menschen nicht abgeschoben werden dürfen, wenn sie von einer unmittelbar bevorstehenden Gesetzesänderung profitieren können.
Muhamed B., der Äthiopier, der in Garmisch-Partenkirchen lebt, ist auf dieser Grundlage mittlerweile wieder aus der Abschiebehaft entlassen worden. Dieses Urteil sei allgemein nicht bekannt gewesen, sagt ein Sprecher des zuständigen Landratsamtes. Muhamed B. darf sich also offenbar Hoffnungen auf das Chancen-Aufenthaltsrecht machen.
Wird sein Fall zum Präzedenzfall in Bayern? Nachgefragt bei Innenminister Joachim Herrmann. Diesmal antwortet er: „Wir schauen uns jeden Fall genau an, jedenfalls bitte ich alle unsere Ausländerbehörden in Bayern darum. Und wenn es jemanden gibt, bei dem es tatsächlich naheliegend eine Bleibeperspektive gibt, werden wir das sicherlich mit einbeziehen.“
Es könnte also sein, dass sich etwas ändert für von Abschiebung bedrohte Menschen in Bayern, die vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren würden.
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