"Charakterfehler"

Vorgestellt von Andreas Baum |
Politiker lügen - und die Wählerinnen und Wähler nehmen es gelassen hin. Politiker machen durch schlechtes Benehmen auf sich aufmerksam - und haben damit Erfolg. In Österreich, so stellt es zumindest die Journalistin Anneliese Rohrer in ihrem Buch "Charakterfehler. Die Österreicher und ihre Politiker" dar, nehmen es die Politiker nicht so genau mit der Wahrheit und dem Benehmen. Und die Bürger machen sich nichts daraus und die Medien schauen zu.
Lüge als Tugend

Einige der Charakterfehler, die Anneliese Rohrer den Österreichern bescheinigt, sind auf den ersten Blick gar keine: Toleranz für die Wirklichkeit anderer gilt nicht nur in Österreich als eine Tugend. Eine gute Eigenschaft, sollte man meinen. Nein, sagt die Autorin, diese allzu große Toleranz für die Wirklichkeit anderer führe zumindest in Österreich dazu, dass die Wahrheit nivelliert wird. Und dass allzu großes Verständnis für Tatsachenbehauptungen entsteht, die man als Lüge bezeichnen muss. Austrias lügen, und die Bürger machen sich nichts draus. Ein Beispiel: Vor den Wahlen verspricht Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, keinesfalls mit den Freiheitlichen zu koalieren, wenn sie stärker werden als seine ÖVP. Genau dies geschieht, trotzdem wird nach der Wahl weiter regiert, als wäre nichts geschehen, und kaum jemand nimmt ihm die Lüge übel. Es ist nach Ansicht von Anneliese Rohrer ausgerechnet der langjährige SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky, der diese Nivellierung der Wirklichkeit zur Tugend erhoben hat. Kreisky war als Jude und als Sozialist währen des Dritten Reiches verfolgt, das hat ihn nicht daran gehindert, später mit Ex-Nazis zusammenzuarbeiten: 1970 ließ er sich mit Hilfe der FPÖ zum Kanzler wählen, einer Partei, die seinerzeit von einem ehemaligen SS-Mann angeführt wurde. Kreisky also, so der Vorwurf, habe vorgemacht, was Schüssel heute nachmacht: Auch mal ein Auge zuzudrücken, wenn es um die Nähe politischer Partner zu totalitären Systemen geht.

Erfolg durch schlechtes Benehmen

Weitere Charakterfehler: Schlechtes Benehmen, Profitgier, mangelnder politischer Anstand, und die Bürger seien einfach zu willig: So groß sei die klammheimliche Freude vieler Wähler in Österreich, unerkannt zu protestieren, dass Jörg Haider immer wieder zu seinen Mehrheiten komme, ohne dass es nach der Wahl jemand gewesen sein will. Haider übrigens wird beschrieben als ein Virtuose des schlechten Benehmens: Immer wieder gelinge es ihm, Aufmerksamkeit durch Viel-zu-spät-kommen zu erlangen, sei es bei Parteitagen oder selbst beim Empfang des Bundespräsidenten: Haider kommt so spät, dass er, wenn er dann doch noch auftaucht, wie eine Sensation gefeiert wird. Besonders ernst ist es Anneliese Rohrer aber mit der Verrohung der Sprache: Unter Haider und Schüssel sei die Politikerbeschimpfung zum normalen Umgangston der politischen Auseinandersetzung geworden. Man hütet seine Zunge nicht mehr und schreckt auch vor groben Beleidigungen nicht zurück, nimmt es aber auch nicht allzu ernst, wenn man vom anderen verspottet oder herabgewürdigt wird.

Die Journaille ist mit schuld

Anneliese Rohrer wäre eine schlechte Journalistin, wenn sie Maßstäbe, die sie an Politiker und Wähler legt, nicht auch für ihre eigene Zunft gelten lassen würde. Rohrer gehört zu den bekanntesten Journalisten Österreichs, sie war lange Ressortleiterin bei der Wiener "Presse", auch Moderatorin im Fernsehen, man schätzt sie und hasst sie wegen ihrer scharfen, bisweilen polemischen Politikerschelte. Die heimische Journaille sei Mitschuld, sagt die Autorin, dass ein Mann wie Haider mit Halbwahrheiten und Vorurteilen Wählerstimmen gewinnen könne: Man habe versucht, ihm zu widersprechen, nicht aber, was Aufgabe der Presse gewesen wäre, ihn durch Recherchen zu widerlegen. Alles in allem ist dies ein amüsantes, gut lesbares Buch für alle, die in die Niederungen österreichischer Politik herabsteigen wollen. Wir Deutschen seien allerdings gewarnt vor Hybris: Sie ist nicht angebracht, denn viele dieser Charakterfehler finden wir bei uns auch, und wenn wir ehrliche sind, sind manche von ihnen noch schlimmer ausgeprägt als bei unseren Nachbarn.

Anneliese Rohrer: Charakterfehler. Die Österreicher und ihre Politiker. Ueberreuter, Wien 2005
192 Seiten, 19,95 Euro