Charles King: "Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand"
Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux
Hanser Verlag, München 2020
480 Seiten, 26 Euro
Unzeitgemäß wilde Frauen im Kampf gegen Rassismus
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Charles King hat ein Buch über den Ethnologen Franz Boas und seine Mitstreiterinnen geschrieben. Der Boas-Kreis wandte sich entschieden gegen den wissenschaftlichen Rassismus, der annodazumal nicht nur in Nazi-Deutschland grassierte.
Als "Enttäuschung seines Lebens" hatte der deutsch-jüdische Ethnologe Franz Boas die Entwicklungen in seiner Wahlheimat bezeichnet. Die Amerikaner taten es in Sachen Rassenpolitik inzwischen den europäischen Nationalstaaten gleich: Überall bemühte man sich nachzuweisen, dass ein Volk von ungesunder Erbmasse gereinigt werden müsse, um gesund zu bleiben.
In einem multiethnischen Masseneinwandererland eine Aufgabe, die ihre Missionare nicht lange suchen musste. Anthropometriker und andere Rassenkundler versuchten mit rational erscheinenden Argumenten, die wertvollen von den lebensunwerten Einwanderern zu trennen.
Das Buch der Stunde war "The passing of the Great Race" von Madison Grant. 1925 erschien es unter dem Titel "Der Untergang der großen Rasse" in Deutschland. Ein gerade aus dem Gefängnis entlassener Österreicher bezeichnete es in einem Brief an den Verfasser als "meine Bibel". Adolf Hitler fand in Grant den Stichwortgeber für seine später in "Mein Kampf" ausformulierte Vision eines Staates jenseits der "Rassenvergiftung".
Kulturrelativismus missfiel vielen Zeitgenossen
Franz Boas war bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Deutschland nach Amerika ausgewandert. Dort etablierte er gegen einige akademische Widerstände eine Spielart der Anthropologie, die nicht länger nach den absoluten Unterschieden zwischen den Völkern suchte, sondern diese im Kontext ihrer Gegenwart begriff.
Doch Kulturrelativismus war ein Denkansatz, der vielen Zeitgenossen missfiel. Denn das schloss automatisch die Idee der Superiorität bestimmter Völker gegenüber anderen aus.
Wenn man zusammenfassen will, wofür das Lebenswerk des emsigen Anthropologen steht, dann wäre es der Kampf gegen den wissenschaftlichen Rassismus. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Charles King hat jetzt die Biografie eines wild und radikal denkenden Forschermilieus geschrieben, das als der Boas-Kreis in die Wissenschaftsgeschichte eingehen sollte.
Da es sich bei der Anthropologie in den neunzehnhundertzwanziger Jahren um eine noch recht junge Disziplin handelte, in der nicht nur Gelehrsamkeit, sondern auch Abenteuerlust gefragt war und in der die Machtstrukturen Durchlässigkeit versprachen, fühlten sich besonders begabte Studentinnen davon angesprochen.
Grundlegend für alle emanzipatorischen Anstrengungen
"Schule der Rebellen" zeichnet die Karrieren der Boas-Schülerinnen Margaret Mead, Ruth Benedict und der ersten afroamerikanischen Ethnologin aus dem Umfeld der Harlem Renaissance Zora Neale Hurston nach.
Damit liefert Charles King das Making-Off einer Disziplin, die grundlegend wurde für alle emanzipatorichen Anstrengungen der letzten hundert Jahre: von feministischen Diskussionen über solche zur Identitätspolitik bis hin zu den Fortschritten, die bei der Normalisierung von homosexuellen Partnerschaften zu verbuchen sind.
Mit Temperament erzählt King von legendären Expeditionen. Ob Margaret Mead auf der Südseeinsel Samoa die Abwesenheit westlicher Pubertätskonflikte untersucht oder Zora Hurston auf Haiti Zombies auf der Spur ist - immer geht der Leser mit in ein offenes Terrain.
So entsteht das Bild einer wilden Disziplin, gestaltet von unzeitgemäß wilden Frauen, die jeweils ein turbulentes Liebesleben hatten. Margaret Mead, die ihre Kolleginnen weit überlebte, war insgesamt drei Mal verheiratet und hatte bis zu deren Tod eine leidenschaftliche Beziehung zu ihrer einstigen Tutorin Ruth Benedict.
In ihrem Nachruf auf Franz Boas, der auf dem Höhepunkt der rassistischen Vernichtungspolitik 1942 starb, schrieb sie: "Er glaubte, man müsse eine Welt schaffen, die Andersartigkeit aushielt."