Charles Taylor: "Das sprachbegabte Tier, Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens"
Übersetzt von Joachim Schulte
Suhrkamp, Berlin 2017
500 Seiten, 38,00 Euro
Sprache als Fortschrittsmotor
Der kanadische Philosoph Charles Taylor widmet sich in seinem neuen Werk der Frage, welche Rolle Sprache in unserem Leben spielt - und entwirft eine sprachphilosophische Lehre vom Menschen.
Was ist Sprache? Wie entsteht Bedeutung, wie Kultur – und was ist der Mensch? Diese grundlegenden Fragen behandelt Charles Taylor in seinem neuen Buch.
Dass Sprache mehr ist als nur ein Werkzeug, ein Vehikel, mit dem wir sprachunabhängige Objekte bezeichnen oder Ideen und Absichten nur transportieren, ist Taylors feste Überzeugung. So unterscheidet der Philosoph gleich zu Anfang sogenannte "Rahmentheorien", für die, grob gesagt, der Inhalt des Gesagten tendenziell unabhängig ist von den soziokulturellen Rahmenbedingungen. Derselbe Inhalt ließe sich auch in anderen Umfeldern ohne großen Substanzverlust artikulieren.
Neue Verhaltensebenen, neue Bedeutungen
Davon zu unterscheiden seien "Konstitutionstheorien", "wonach die Sprache neue Zwecksetzungen, neue Verhaltensebenen, neue Bedeutungen ermöglicht". "Im Grunde stehen diese Theorietypen für grundverschiedene Auffassungen vom menschlichen Leben", behauptet Taylor: Zum einen für eine mechanistische Auffassung, die Worte und Objekte nur äußerlich (durch Konvention oder Gewohnheit) verkoppelt. Und zum anderen eine "holistische", die Sprache als Medium des Selbstverständnisses sieht und, da Sprache vor allem Dialog ist, als eine Art Dauerverhandlung mit unseren Gegenüber und auch mit uns selbst.
Dem zweiten Ansatz zugeneigt (und mit Bezug auf dessen Vorfahren wie Herder, Hamann oder Humboldt), entwirft Taylor eine sprachphilosophische Lehre vom Menschen. Durch Kommunikation werde ein gemeinsamer Erfahrungsbereich gestaltet, also gewissermaßen eine neue Wirklichkeit sui generis. Sprache spielt folglich eine Schöpferrolle und wirkt zugleich als Fortschrittsmotor, der unaufhörlich das menschliche Optionsspektrum erweitert. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Das jüngst vom Bundesverfassungsgericht für Geburtenregister geforderte "dritte Geschlecht" gebiert, schlicht per sprachlicher Anordnung, ein vormals kulturell kaum existentes 'Objekt'.
Gestaltung der psychischen und sozialen Wirklichkeit
Dass wir mit Sprache unsere Wahrnehmung, unsere psychische und soziale Wirklichkeit gestalten, weiß man von Werbung, Komplimenten, Drohungen. Insofern ist der Entstehungszusammenhang einer Wortbedeutung durchaus nicht so gleichgültig für ihre Wirkung und Geltung, wie uns die lange vorherrschende sprachanalytische Philosophie glauben machen wollte.
Alltagsbegriffe wie Stolz, Integrität, Demütigung lassen sich ohne die Kenntnis ihres variablen Stellenwerts in der Kultur nicht nur nicht verstehen, sondern womöglich nicht einmal empfinden, geschweige in Verhalten umsetzen. Immer sei Bedeutung eingebettet in ein sogenanntes Narrativ, das Teilnehmer einer Kultur stillschweigend teilen. Aber jeder Teilnehmer bringe auch eine andere Gewichtung, eben weil ein anderes sinnstiftendes Narrativ ein. Insofern seien Bedeutungen auch nie endgültig; sie bleiben verhandelbar, entwicklungsfähig.
Alles Relevante für den Weltentwurf versammelt
Angesichts des Kulturspektrums, auf dem Taylor diese eine Hauptthese durchspielt, der geschichtlichen und zeitgenössischen Strömungen, mit denen er sie konfrontiert, und nicht zuletzt der leitmotivischen Redundanzen liegt die Vermutung nahe, dass dieser Text als abrundendes magnum opus gedacht ist – so als müsse alles Relevante für seinen Weltentwurf noch einmal versammelt werden.
Freilich ist auch ein Folgeband schon angekündigt: Er soll die künstlerischen Sprachen aufschlüsseln – just jenen Bereich, den der vorliegenden Band als schöpferische Grauzone nur angedeutet hatte.