Charlie Kaufman: "Ameisig"
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
Hanser Verlag, München 2021
864 Seiten, 34 Euro
Ein Meisterwerk des Selbsthasses
05:39 Minuten
Charlie Kaufmans Drehbücher für "Being John Malkovich" oder "Adaption" wurden von der Kritik bejubelt. Nun stellt er in seinem Debütroman ausgerechnet einen Filmkritiker bloß und stichelt heftig gegen Political Correctness und Identitätspolitik.
Vor 20 Jahren, als es noch Filme ohne Superhelden gab und Fernsehserien noch nicht als Hochkultur galten, sah es kurz so aus, als wäre Charlie Kaufman die Zukunft des Kinos. Seine überbordend kreativen Drehbücher für Filme wie "Being John Malkovich" und "Adaptation" waren Spiegelkabinette voller guter Gags, die narrative Meta-Tricksereien mit melancholischem Humanismus verbanden.
Niemand liebte diese Filme so wie die Kritik – und trotzdem, oder deswegen, stellt Kaufmans Debütroman "Ameisig" einen New Yorker Filmkritiker dar und bloß.
Dass dieser B. Rosenberger Rosenberg das Gesamtwerk von Kaufmans als überschätzt ablehnt, ist im Roman noch eine seiner sympathischsten Eigenschaften. Rosenberg ist davon besessen, immer richtig zu liegen und permanent falsch zu sein.
Akribisch widmet er sich Bestenlisten und akademischer Analyse von Filmen, ohne Leidenschaft und Freude zu empfinden, aber mit genauem Blick dafür, welchen obskuren estnischen Kunstfilm er als unverstanden loben muss, um im Gespräch zu bleiben. Auch sein Privatleben ist anhand ähnlicher Kriterien ausgerichtet. Er kann gar nicht aufhören, jeder Person seine nonchalante Gleichgültigkeit darüber zu erzählen, dass seine Freundin schwarz ist und mal in einer nicht unbekannten Sitcom mitgespielt hat.
Überdrehter Metaplot
Doch dann bricht etwas in Rosenbergs Leben: Kunst nämlich, wahre Kunst. Durch Zufall entdeckt er den größten Film aller Zeiten, ein dreimonatiges Epos des schwarzen Regisseurs Ingo Cutbirth. Der ist fast 120 Jahre alt und seit 90 Jahren mit der Arbeit daran beschäftigt. Doch bei der Sichtung wird der Film zerstört. Rosenberg versucht, ihn mit Mitteln der Psychiatrie und Hypnose in seinem Kopf zu rekonstruieren.
Das ist die Art von überdrehtem Metaplot zwischen Realität und Satire, zwischen Namedropping und Phantasmagorie, von der amerikanische Popliteratur lange lebte. Rosenberg doziert über Tarantino und den Comedy-Mogul Judd Apatow. Größen der New Yorker Literatur- und Kritikszene tauchen kaum verschlüsselt als Nebenfiguren auf. Der zentrale Plot löst sich schnell auf, zerfasert in kleine Episoden über Trump-Roboter, mörderische Rivalitäten unter Slapstick-Komikern und die Zerstörung allen Lebens.
Angeekelt von der eigenen Kreativität
Gut möglich, dass 2021 niemand mehr auf solche Referenzsperenzchen, Überdrehtheiten und narrativen Brüche Lust hat, und das Publikum für Anspielungen auf New Yorker Filmkritikertratsch wird in Deutschland eh begrenzt sein. Nur: Kaufman geht es wohl ähnlich. "Ameisig" ist eine Art Meisterwerk des literarischen Selbsthasses – nicht nur einfach der Selbsthass von dem Ich-Erzähler Rosenberg, der sich immer mehr in seine wahnhafte Beteuerung, kein Jude zu sein, hineinsteigert, sondern der Selbsthass von Kaufman als Autor.
Jede Wendung, jeder Witz, jede Idee ätzt. Kaufman ist ein verbittertes Genie, von seiner eigenen Kreativität angeekelt, weil Kunst heutzutage – wahlweise im Kapitalismus, im Protofaschismus oder in der Postmoderne – eh nichts mehr bedeutet.
Dazu gehören auch Sticheleien gegen Political Correctness, Cancel Culture und Identitätspolitik, einschließlich genderneutralen Pronomen als stilistischem Kunstgriff. Doch auch hier richtet Kaufman, kein Kulturkonservativer, das Messer am Ende gegen sich selbst.
"Ameisig" ist mit seinen 864 Seiten ein Grabstein für einen Typ Mann und ein ganzes Romangenre: Der quälende Alltag von hyperneurotischen und hypersexualisierten jüdischen Männern mit zu vielen Namen im Kopf wird bei Kaufman zu einem apokalyptischen Witz. Der eigene Bedeutungsverlust wird zum Ende der Welt verklärt und umso sehnsüchtiger erwartet: "Ameisig" ist von einer kosmischen Chuzpe.