Charlotte Roches zweiter Streich

Das zweite Buch von Skandalautorin Charlotte Roche, "Schoßgebete", ist mehr als die bloße Fortsetzung ihres Sensationserfolges "Feuchtgebiete". Zwar kommen auch hier detaillierte Analysen des Sexlebens der Protagonistin nicht zu kurz, nebenbei muss sich diese aber auch mit dem Tod ihrer Brüder auseinandersetzen.
Elisabeth Kiehl, die Ich-Erzählerin in Charlotte Roches zweitem Roman "Schoßgebete", ist eine 33-jährige Ehefrau und Mutter einer siebenjährigen Tochter. Modern an ihr ist der unbedingte Wille, jeden Gedanken absolut tabufrei auszusprechen, auch wenn sie dabei selbst schlecht wegkommt. Unzeitgemäß scheint der hohe moralische Anspruch Elisabeths, weshalb sie sich wiederholt mit einer "Katholikin" vergleicht. Elisabeth will mit allen Mitteln ihren Mann Georg sexuell zufrieden stellen, ewig mit ihm zusammenbleiben und ihr Kind zu einem ordentlichen und freien Menschen erziehen. Nach den Regeln von Jonathan Safran Foers soll alles einwandfrei ökologisch und vegetarisch sein. Damit sie das alles schafft, fährt sie seit sieben Jahren dreimal in der Woche zu einer Psychotherapeutin.

Charlotte Roche, die Skandalautorin des Sensationserfolges "Feuchtgebiete" (Auflage 1,8 Millionen), erfüllt auf den ersten 15 Seiten die in sie gesetzten Erwartungen. Sie beschreibt detailgenau Schritt für Schritt, wie eine klinische Gebrauchsanweisung, den Sex mit ihrem Mann. Aber immer laufen bei dieser hochreflektierten Person die Gedanken mit, an das, was in ihrer eigenen Erziehung schief gelaufen ist. Vor den feministischen, männerverachtenden Ansichten der Mutter rettet sie sich zu den angelesenen Sex-Ratschlägen. Überhaupt die Ratschläge - ohne Ratgeber käme Elisabeth Kiehl nicht durch den Alltag. Soweit moderner Durchschnitt: gut, selbstironisch, auch komisch von Charlotte Roche erzählt, mal drastisch und bildreich und immer mit einem fast mathematischen Beobachtungstalent.

Weshalb die "Schoßgebete" mehr sind als eine Fortsetzung der "Feuchtgebiete", weshalb sie ein ernst zu nehmendes, heutiges Buch sind, liegt an Charlotte Roches (psychoanalytisch geschulter) Fähigkeit, das eigentliche Drama, das hinter dem Alltagsfilm läuft, einzublenden. Das Buch basiert, wie es heißt, "auf einer wahren Begebenheit". Der Rest ist Erfindung.

Auf dem Weg zu ihrer ersten Hochzeit mit Stefan vor acht Jahren verunglückte bei einer Massenkarambolage Elisabeths Mutter mit ihren drei Brüdern. Die Mutter überlebte, die Brüder verbrannten. So steht es im Buch, so ist es in Charlotte Roches Leben gewesen. Dieses Trauma ist das Zentrum der "Schoßgebete".
Die erbarmungslose Offenheit, mit der Charlotte Roche Elisabeth Kiehl durch die Höllen der Erinnerung und Schuldgefühle führt, gibt dem Buch ein großes Thema. Das Thema der Schuld, überlebt zu haben. Aggressionen gegen die Mutter, die am Steuer saß, und tiefe Ängste aus der Kindheit Elisabeths, die bei den wechselnden Männern der Mutter aufwuchs, führen zu ihrem übersteigerten Wunsch, ihren Ehemann Georg glücklich zu machen. Sie geht mit ihm zur Luststeigerung sogar ins Bordell und unterdrückt ihren eigenen Wunsch fremdzugehen. Das ist sehr plastisch und auch äußerst komisch beschrieben.

Anders als für den hilfsbereiten und anspruchsvollen Georg, der im Roman eher ein Objekt, als ein Mensch aus Fleisch und Blut bleibt, entfaltet Charlotte Roche bei Elisabeth den komplizierten Kosmos einer extrem aufgeklärten Frau, die dennoch ganz auf den Wunsch nach einer glücklichen Ehe fixiert ist. Elisabeth Kiehl rackert sich eine Generation nach Houellebecq an den Folgen der selbstbezogenen egozentrischen Eltern ab.

"Schoßgebete" trifft neuralgische Punkte einer vorgeblich tabufreien Gesellschaft, auch wenn das Buch gegen Ende an Dringlichkeit und Anspruch verliert. "Schoßgebete", in leicht zu lesender Sprache verfasst (" ich schreibe, wie ich spreche"), handelt von der Anstrengung, ein Ehe- und Familienleben in unserer Zeit hinzubekommen.

Besprochen von Verena Auffermann

Charlotte Roche: Schoßgebete
Piper Verlag, München 2011
282 Seiten, 16,90 Euro

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