Charlottengrad und Scheunenviertel

Von Matthias Bertsch |
Berlin besitzt derzeit eine der weltweit am schnellsten wachsenden jüdischen Gemeinden. Neu ist das Phänomen der Zuwanderung aus dem Osten nicht: Bereits in der Weimarer Republik zogen sogenannte Ostjuden ins Scheunenviertel oder nach Charlottenburg. Mit ihren Erfahrungen hat sich die Konferenz "Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918 – 1939" im Jüdischen Museum in Berlin beschäftigt.
Wenn von jüdischen Flüchtlingen in der Weimar Republik die Rede ist, dann fällt schnell der Begriff "Ostjuden". Doch eigentlich muss man die Migranten in zwei Gruppen unterteilen, so Verena Dohrn vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin:

"Einmal die Revolutionsflüchtlinge, die in erster Linie russisch akkulturiert waren, das heißt russisch sprachen, meistens dem Mittelstand entstammten und solchen, die vor Pogromen, vor dem Krieg geflohen waren, eher mittellosen, sogenannten Ostjuden. Ich würde sie eher unter diesem Stereotyp fassen, das heißt mittellose, jiddisch sprechende, eher der Tradition verpflichtete Leute aus Galizien, aus Polen, Rumänien, der Ukraine, Belorussland."

Dohrn koordiniert das Forschungsprojekt "Charlottengrad und Scheunenviertel", das die Tagung über die osteuropäischen jüdischen Migranten organisiert hatte. Das heute so beliebte "Scheunenviertel" in der Mitte Berlins war in der Weimarer Republik das Elendsviertel der Hauptstadt. Hierher zog es die sogenannten Ostjuden, denen die meisten Deutschen – Juden wie Nichtjuden – mit Verachtung begegneten: Die "Ostjuden" galten als primitive Stetl-Bewohner - zu erkennen an ihren langen Bärten und Mänteln.

Doch das Scheunenviertel war nicht einfach ein jüdisches Stetl mitten in Berlin, betont Anne-Christin-Saß vom Osteuropa-Institut mit Blick auf den Schriftsteller Joseph Roth, "vielmehr trafen hier Tradition und Transformation aufeinander":

"Joseph Roth ist ein gutes Beispiel für einen Migranten, der aus Osteuropa kommt, der ne ganz große Migrationserfahrung hat, der sich von der Religion und Tradition schon weit entfernt hat, wie er sie in Brody erlebt hatte, der wirklich aus nem typischen Stetl kommt, selber aber aus ner bürgerlichen Familie, und für den das Scheunenviertel so ein Ort wird, wo man immer wieder hingehen kann, was einem schon ne Art Gefühl von Heimat gibt und vielleicht auch ne Kultur sehen lässt, die man nicht mehr leben kann, aber nach der man sich vielleicht sehnt."

Auch das Bild des Scheunenviertels als einer Art Parallelwelt – deren Entstehung Politiker heute vor allem in muslimisch geprägten Vierteln deutscher Großstädte befürchten – hat mit der Realität nur begrenzt zu tun.

Anne-Christin Saß: "Das war natürlich für religiöse Familien ein großes Problem, aber das gab es natürlich, dass insbesondere Jugendliche sich mit der nichtjüdischen Bevölkerung auf den Straßen getroffen haben. Es ist überliefert, dass es Fußballspiele gab vor der Volksbühne, wo jüdische Migranten mit den Kindern der ortsansässigen Polizisten gespielt haben, all diese ganz normalen Alltagsdinge, darüber hinaus, gerade eben auch für orthodoxe Migranten war es notwendig, dass sie für den Sabbat Personen hatten, die Dinge für sie erledigten, die sie selbst nicht erledigen konnten, von daher gab's diese Kontakte, und die gehen über ein einfaches Grüßen hinaus, das heißt: Man kannte sich, man kannte die Familien und wusste auch einiges voneinander."

Im Westen Berlins, vor allem in Charlottenburg – von den russischen Migranten Charlottengrad genannt – war der Kontakt stärker. Hier wurde alles verhandelt: die soziale Frage genauso wie die nationale: Was hielt die Juden eigentlich zusammen, wenn sie sich – wie viele der russischen und osteuropäischen Migranten - nicht mehr als religiös verstanden? Im Romanischen Café am Kurfürstendamm – dem Künstlerlokal der Zeit - wurde heftig darüber gestritten, ob Hebräisch oder Jiddisch die gemeinsame Sprache war, die die Juden in Zukunft vereinen sollte. Die meisten dieser Diskussionen waren zwar innerjüdisch, aber es gab auch einen regen Austausch mit nichtjüdischen Intellektuellen. Das ist es, was sich Verena Dohrn für heute wünscht: eine größere Offenheit vor allem der Intellektuellen für Migration und Integration:

"Integration wurde ja auch in deutschen öffentlichen Diskursen lange Zeit falsch verstanden, als schlichtweg Anpassung der Migranten an die Mehrheitsgesellschaft, und das ist ein großes Missverständnis, und das wird deutlich, wenn man sich das Leben und Wirken der Migranten aus dem östlichen Europa jüdischer Herkunft in den 20er und 30er-Jahren in Berlin betrachtet: diese Leute haben ihre eigenen kulturellen Prägungen mitgebracht und haben sie hier auch verteidigt, und das denke ich, ist eine ganz wichtige Dimension der Erfahrung, die auf heute übertragbar ist. Also überhaupt ein Gefühl und eine Fähigkeit zu entwickeln für das Fremde, mit dem Fremden umzugehen, Eigenarten anderer zu akzeptieren und auch als eine Befruchtung, als eine Anregung zu verstehen, das denke ich ist eine ganz wichtige Botschaft, die ich hoffe aus dem Projekt mitnehmen zu können in aktuelle Diskussionen."