Tanzen, singen und beten am Grab von Rabbi Nachman
Jedes Jahr pilgern Zehntausende Chassiden ins ukrainische Uman, um das Neujahrsfest - Rosh Hashana - zu feiern. Die Pilger werden von den Einwohnern wohlwollend aufgenommen. Doch das war nicht immer so.
Es wird eng. Wenn die Menge tanzend, singend und betend die Puschkin-Straße hinauf- und herunterunter wogt, kann den Beobachter schon einmal Platzangst befallen. Die Sonne ist hinter den hohen Plattenbauten verschwunden. Das Neujahrsfest kommt jetzt richtig in Gang. Auf ungefähr einem Quadratkilometer, abgesperrt von der Polizei, drängt sich die Menge in der Puschkin-Straße und ihren Seitengassen in Uman. Aus aller Welt sind die Chassidim gekommen, um hier Rosh Hashana, das jüdische Neujahrsfest, zu feiern – in Uman einer staubigen und malerischen Provinzstadt rund zwei Autostunden südlich von Kiew.
"Jedes Jahr sind es mehr, mehr, mehr. Letztes Jahr waren es 30.000. Und dieses Jahr müssen es ca. 40.000 sein. Afrika, Amerika, Deutschland. So viele Leute auch aus Deutschland gibt’s. Von überall fliegen sie, fahren mit Bus nach Uman."
Alexander Hoffmann wurde in Uman geboren. 2001 ist er mit seiner jüdischen Familie nach Deutschland ausgewandert. Nun lebt er in Hannover, kommt aber alljährlich ins heimatliche Uman, um dort Rosh Hashana vorzubereiten. Hoffmann organisiert und dolmetscht, wo es nötig ist – Hebräisch, Ukrainisch, Russisch oder Deutsch.
"Drei-, viertausend Menschen – nur hier. Wollen Sie Fotos machen, gerne."
In den letzten Jahren Zahl der Pilger gestiegen
Hoffmann deutet auf den Neubau einer großen Synagoge. Auch Hallen für die Massenverpflegung sind aus dem Boden geschossen und eine gigantische Herberge.
"So, das ist ein Platz zum Schlafen hier, bis 5000. Es gibt so viele Hotels hier. Und auch die Privaten vermieten. Leute, die in Uman wohnen, vermieten diese zehn Tage die Wohnung an die Chassidim."
In den letzten Jahren ist der Andrang der Pilger stetig gewachsen. Alle kommen sie wegen Rabbi Nachman, einem der großen Anführer der Frömmigkeitsbewegung der Chassidim. Er wurde 1772 nicht fern von Uman geboren. Sein letztes Lebensjahr verbrachte der Zaddik in der Stadt. Rabbi Nachman propagierte das spirituelle Glück für Jeden abseits der Thora-Gelehrsamkeit. Immer glücklich zu sein, freudig und sogar albern – auch im Angesichts eines tragischen Schicksals, so lautete seine Botschaft. Es war die Botschaft eines Mannes, der seinen Anhängern fast wie ein Messias erschien. 1810 starb Rabbi Nachman in Uman und wurde dort bestattet. Mit seiner Lehre heilte er die Wunden der ukrainischen Juden. 1768 hatten ukrainische Hajdemaken unter der Führung des grausamen Ivan Gonta Tausende, wahrscheinlich zehntausende Juden in Uman niedergemetzelt.
"Das hat schon Rabbi Nachman gesagt, dass Rosh Hashana in Uman sein muss."
Und so war es auch, bis die Sowjetherrscher die Chassiden zwischen den Weltkriegen nach Zentralasien deportierten. Die rund 17.000, die in Uman blieben und mit dem Chassidismus wenig zu tun hatten, töteten die Deutschen 1941 an den Teichen unterhalb des Grabs von Rabbi Nachman. Nach Kriegsende betonierten die Sowjets das Grab von Rabbi Nachman zu. Damit besiegelten sie das Ende einer ungeliebten Tradition, glaubten sie.
Doch bereits Mitte der sechziger Jahre drangen erstmals wieder – vereinzelt – gläubige Juden aus dem Westen nach Uman, damals militärisches Sperrgebiet.
Chaim Kramer kommt aus Jerusalem und verbringt heute einen Teil des Jahres in Uman: "Als ich das erste Mal kam, das war 1965, da hat mich keiner erkannt. Ich ließ mich von einem Fahrer hierher chauffieren betete meine zehn Psalmen herunter und verschwand wieder. Für Ausländer war das Betreten der Stadt ja verboten und so kam ich ohne Genehmigung."
In einer Seitengasse der Puschkin-Straße führt er ein kleines Hotel.
"Diese Hochhäuser, die gab es damals noch nicht. Die kamen erst in den späten siebziger Jahren. Es gab nur kleine Privathäuser. Der Staat nahm sich das Terrain und stellte diese Plattenbauten hin. Man wollte eine Fabrik bauen, um die Leute zu beschäftigen, aber dazu kam es nicht mehr. Denn dann brach schon allmählich die Sowjetunion zusammen."
1988 gewährte Michail Gorbatschow erstmal wieder 200 Chassidim aus Israel Zugang nach Uman – ans Grab des Rabbi Nachman.
Insgesamt friedliche Atmosphäre
Seither schwillt der Strom der tanzenden, singenden und betenden Pilger Jahr für Jahr an. Im Haus über dem Grab des heiligen Rabbi drängen sich die Gläubigen – nicht nur zum Neujahrsfest. Die Puschkin-Straße ist praktisch zweisprachig. Auch Busse und Taxis werben auf ukrainisch und hebräisch.
Oleg, einer der wenigen angestammten jüdischen Einwohner von Uman, scheint hin- und hergerissen:
"Ich bin Jude aus Uman, wohne aber nicht hier in der Puschkin-Straße, sondern in der Nähe vom Bahnhof. Meine Mutter lebt in Israel. Diese Feiern hier sind für mich perfekt, denn ich arbeite als Taxifahrer und Übersetzer."
Die Juden im Kaftan mit Schläfenlocken sind ihm denkbar fremd. Für religiöse Zeremonien hat er wenig übrig. Doch das Geschäft interessiert ihn und die Volksfestatmosphäre in der Puschkin-Straße, die manchmal auch etwas von der Euphorie eines Fußballstadions hat, hat auch ihn angesteckt.
Die nichtjüdischen Ukrainer sehen die Chassidim mit Wohlwollen. Feindseligkeit ist kaum zu spüren. Anders war es vor Jahren, als ukrainische Einwohner nahe der Puschkin-Straße ein großes Kruzifix errichteten. Wenn ein paar junge Juden dann vor diesem Messias ausspuckten, war der Eklat da.
Auch heute wacht die Polizei in einem Zelt über den Jesus am Kreuz. Aber alles in allem scheint am jüdischen Neujahrsfest Frieden zu herrschen in Uman. Dennoch:
Alex: "Das ist sehr kompliziert."
Rabbi Nachman: Echte Freude muss errungen werden
Alex schaut mit Distanz auf die Ekstase der Feiernden in der Puschkin-Straße. Als Jude und Dissident hat er die Sowjetunion 1974 verlassen. Heute lebt er als Verleger in Chicago. Auf Besuch in der Ukraine hat er sich zu einem Abstecher nach Uman entschlossen:
"Auf der einen Seite verhalten sich die Ukrainer sehr jovial und freundlich. Aber mit dieser Freundlichkeit geht eine Geschichte von Grausamkeiten einer, die Ukrainer den Juden angetan haben. Das begann vor vielen Jahrhunderten."
Zum Beispiel mit jenem Ivan Gonta, der die Juden der Stadt im 18. Jahrhundert ermordete. Diesem Gonta hat man in Uman vor wenigen Jahren ein Denkmal errichtet – einen Steinwurf vom Grab des Rabbi Nachman entfernt. Chaim Kramer aus Jerusalem winkt ab, als er auf das Denkmal angesprochen wird:
"Nun ja, Ivan Gonta hat 30.000 Juden in Uman umgebracht. Aber das hat keine Bedeutung heute. Ich meine, wissen tut man es nie. Auch in den USA werden Leute umgebracht, in Südafrika, Südamerika oder Nordkorea. Getötet wird überall auf der Welt."
Ukrainische Erinnerungspolitik ist kein Thema beim Chassidischen Neujahrsfest von Uman. In der Ekstase der Gläubigen gehen die Bedenken der Speptiker unter. Sie verschwinden im Gebet, im Tanz, im Gesang – in der Anstrengung. Denn echte Freude kommt nach der Überlieferung des Rabbi Nachman nicht von selbst. Sie muss errungen werden. Sie ist das Schwerste von allem.