Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas?

"Hier ist ein Brennpunkt, das muss man nutzen"

Chemnitzer Panorama
Könnte der Kulturhauptstadt-Titel eine Chance zur Weiterentwicklung für die Stadt Chemnitz sein? © Imago / Michael Trammer
Von Alexandra Gerlach |
Es ist wieder ruhig in Chemnitz, doch die Bilder von rechten Hetzjagden bleiben. Wie soll die Stadt vor diesem Hintergrund mit ihrer Bewerbung als "Europäische Kulturhauptstadt 2025" umgehen? Absagen? Oder durchziehen − jetzt erst recht?
Es ist wieder friedlich auf den Straßen von Chemnitz, Alltag ist eingekehrt. Dennoch hat sich etwas geändert in der Stadt, die traditionell ein Aschenbrödeldasein neben Leipzig und Dresden lebt. Dabei hat Chemnitz in den Jahren seit der Wende eine erstaunliche Entwicklung genommen: Wirtschaftlich prosperierend, mit einer interessanten Kunstszene, einer überregional bekannten Kunstsammlung, einem eigenen Opernhaus, bildschönen sanierten Gründerzeitquartieren, einem neu aufgebauten Stadtzentrum und einer lebendigen Universität.
Eine Stadt, die viele Brüche erlebt, unterschiedliche Namen getragen und immer wieder einen Neuanfang gewagt hat. So soll es auch jetzt sein, sagt Chris Münster. Der 33-jährige studierte Philosoph engagiert sich seit gut sieben Jahren in der freien Kulturszene der Stadt. Er ist Kulturbotschafter für die Bewerbung um den Titel der "Europäischen Kulturhauptstadt 2025" und denkt gar nicht ans Aufgeben: "Natürlich, das ist keine Frage, Chemnitz sollte mehr denn je diese Bewerbung vorantreiben. Und ich denke, dem steht auch überhaupt nichts im Weg, im Gegenteil. Diese Entwicklung der letzten zwei, drei Wochen haben gezeigt, dass es hier Entwicklungsbedarf gibt."

"Jetzt zeigen wir Kante"

Münch steht nicht allein mit seinen Überlegungen. Auch Egmont Elschner vom Verein "Freundeskreis Chemnitz e.V." und Vorsitzender des Kulturbeirats der Stadt fordert energisch in einem Interview mit dem mdr-Fernsehen: "Jetzt erst recht, jetzt zeigen wir Kante dagegen, Wir sind mehr!"
Viele Chemnitzer wüssten genau, dass sie in der Mehrzahl seien, gegenüber denjenigen, die mit fremdenfeindlichen und rassistischen Parolen skandierend durch die Straßen der Stadt gezogen seien, sagt Elschner überzeugt:
"Natürlich ist es scheußlich mit diesem Image im Moment, aber es beweist, welche Aufbrüche notwendig sind. Und 'Aufbruch' ist das Thema unserer Kulturhauptstadtbewerbung und wir meinen, dass wir erst recht jetzt, mit dieser Situation, mit den Menschen und vor allem auch in der Gesamtheit aller Chemnitzerinnen und Chemnitzer es schaffen können und schaffen wollen!"

Schon die Bewerbung ist eine Chance

Schon der Weg zu dieser Bewerbung sei auch eine Chance für die Stadt, mithilfe der demokratischen Kräfte einen innerstädtischen, gesellschaftlichen Aufbruch zu wagen. Für ihn steht außer Frage, dass die Bewerbung um den Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2025" fortgesetzt werden muss: "Kultur ist das Miteinander untereinander und dieser Austausch und dieses aufeinander Hören und vielleicht auch zulassen, was einem selbst nicht unbedingt gefällt, und das müssen wir lernen."
So sieht es auch Lars Fassmann. Der Chemnitzer IT-Unternehmer engagiert sich seit Jahren in seiner Stadt für die Akteure der freien Szene und Subkultur: "Ja, also die Kulturhauptstadt richtet sich ja an Städte, die sich gern weiterentwickeln wollen, insofern macht es mehr Sinn als vorher."
Auf dem Chemnitzer Sonnenberg, einem traditionellen Arbeiter- und Altbauviertel, das über viele Jahre zum Kernbereich rechtsgerichteter Kiezaktivitäten gehörte, hat Firmenchef Fassmann ein gutes Dutzend heruntergekommener Mietshäuser aufgekauft, hergerichtet und Künstlern der alternativen Szene zur Verfügung gestellt. Diese Szene sei in Chemnitz weniger im Zentrum als vielmehr in den Randbereichen präsent, sagt Lars Fassmann - und will das ändern. Aus seiner Sicht sind gerade die kleineren Strukturen wie Vereine und Initiativen jetzt gefragt, um die zerrissene Gesellschaft wieder in einen Dialog zu bringen und zugleich die Bewerbung zur Kulturhauptstadt zu befördern:

Zwei Anschläge auf ein einfaches Lesecafé

"Also man kann sich jetzt nicht auf die Städtischen Kunstsammlungen konzentrieren oder auf das Theater. Es gibt ganz, ganz viel andere Formate, die Menschen abholen, das ist eine wichtige Funktion, und die andere wichtige Funktion ist es, dass Kunst und Kultur – insbesondere auch die Subkultur – eigentlich auch ein gesellschaftliches Experimentierfeld sind, also dass ich Künstlerinnen und Künstler habe, die ganz neue Formate entwickeln, um auch gesellschaftlichen Wandel voranzubringen", so Fassmann.
Aber ist das die Art von Kultur, die sich die Chemnitzer wünschen? Unkonventionelle, experimentelle Musik, Performance oder Lesung, wie etwa im Chemnitzer Lesecafé "Odradek". Seit siebeneinhalb Jahren gibt es dieses selbstverwaltete Kulturcafé im Herzen der Stadt. Es hat sich zu einem Anlaufpunkt für Künstler der freien Szene entwickelt und zieht inzwischen ein ganz gemischtes Publikum an.
Bei seiner Gründung war das Odradek eine der ersten Einrichtungen dieser Art in Chemnitz. Nicht jedem gefällt das Kulturkonzept. Im vergangenen Jahr gab es zwei Anschläge auf das Lokal, die niemals aufgeklärt wurden.

Kultur als Schlüssel zur Aufarbeitung

Für den 33-Jährigen Chris Münster, der das Lesecafé damals gegründet hat, bildet die Kultur den Schlüssel zur Aufarbeitung der jüngsten Ereignisse in seiner Stadt. "Kultur," sagt Münch, "schafft Räume und Austausch und Verständigung über das, was man tut, was man gesehen hat, und da kommen Weltanschauungen zum Ausdruck, da denke ich, da sehe ich das Potential, dass über diesen Austausch Menschen ins Diskutieren kommen, und eben verschiedene Menschen aufeinander treffen, die dann vielleicht feststellen: Okay, der kommt vielleicht aus einem anderen Land, aber am Ende ist er doch ein netter Typ, hätte ich gar nicht gedacht!", so Münch schmunzelnd.
Die rassistisch motivierten Ausschreitungen bedürften der Aufarbeitung, sagt der junge Chemnitzer Kulturmanager, der sich vor allem in der freien Szene engagiert, die immer wieder über Hürden klagt, die ihr von der Verwaltung der Stadt in den Weg gelegt werden.
Auch hier könnte die Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt hilfreich sein, hofft Chris Münch, der sein wichtigstes Ziel als Kulturbotschafter darin sieht, die Menschen für diese Bewerbung zu begeistern und zum Mitmachen anzuregen.
Dies müsse generationsübergreifend geschehen: "Da ist, denke ich, auch wiederum ein Austausch nötig – darüber, was denn alte Menschen, alte Leute heutzutage bewegt, und was eben denen gefällt, was da für Bedürfnisse herrschen, da bin ich auch nicht besonders gut informiert, aber diese Angebote sollte es definitiv geben."

"Hier ist ein Brennpunkt"

Den eigenen Fokus öffnen und die gesellschaftliche Spaltung abbauen, darin liege die Chance. Die Kultur biete dabei einen sehr wichtigen Austausch für die Gesellschaft, so Münster. In Chemnitz gebe es genügend Menschen, die jetzt ein Gegenbild setzen wollen zu den Bildern, die um die Welt gingen.
Lange habe man darauf hingewiesen, dass es hier eine rechtsextreme Szene gebe, sagt Chris Münster mit Blick auf die NSU-Unterstützer, die – wie man inzwischen weiß – auch in Chemnitz zuhause waren. Die Chancen für eine erfolgreiche Kulturhauptstadt-Bewerbung sieht er als Kulturbotschafter und Mitglied des Programmrates gar nicht mal als so schlecht. Schließlich hätten die aktuellen Ereignisse den Scheinwerfer auf Chemnitz gerichtet, nun sei klar: "Hier ist ein Brennpunkt." Dieses öffentliche Bewusstsein müsse man nutzen.
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