Autorin: Jenni Roth
Sprecherin: Nina West
Redaktion: Martin Hartwig
Ton: Inge Goergner
Regie: Klaus Michael Klingsporn
Eine Gewalttat spaltet eine Stadt
30:29 Minuten
Nachdem Daniel H. im August 2018 in Chemnitz erstochen wird, macht die rechte Szene ihn zum Märtyrer. Denn die mutmaßlichen Täter sind Geflüchtete. Es kommt zu Straßenschlachten, Aufmärschen Rechtsradikaler. Bald ist klar: Es geht darum, wer in der Stadt das Sagen hat.
Mitternacht in Chemnitz, Anfang Juni. Brückenstraße, Kreuzung Straße der Nationen, ein paar Meter weiter das übermächtige Karl-Marx-Monument. Die breiten Alleen sind menschenleer, autoleer. Nur in einem Dönerimbiss an der Ecke brennt Licht. Das Areal ist mit Flatterbändern abgesperrt. Das Landgericht Chemnitz hat eine Tatortbegehung anberaumt, an dem Ort, an dem Daniel H. erstochen worden ist.
An der Tramhaltestelle in der Straßenmitte sind ein paar Dutzend Schaulustige zusammengekommen. Polizisten kontrollieren ihre Taschen. Eine Reihe von Verfahrensbeteiligten steigt aus und verschwindet im Dönerladen. Kurz darauf erscheinen ihre Köpfe im Fenster: Sie wollen wissen, ob man von hier aus den Ort sehen kann, an dem Daniel H. erstochen wurde, wie ein Zeuge behauptet. Es liegen 50 Meter zwischen dem Laden und dem Tatort, an dem inzwischen eine Gedenkplatte mit Daniels Namen in den Boden eingelassen ist.
Eine Zäsur für eine Stadt
Am 26. August 2018 gegen drei Uhr morgens stechen zwei Männer mehrfach mit einem Messer auf Daniel H. ein. Er stirbt kurz danach im Krankenhaus. Rasch werden zwei Verdächtige verhaftet, beides Flüchtlinge, die 2015 und 2016 nach Deutschland kamen. Eine Tat, die Wellen schlägt, die Auswirkungen hat, von hier auf dem Platz und bis hinauf auf die höchsten politischen Ebenen; die zu Straßenschlachten führt, zu Aufmärschen von Rechtsradikalen, zum Beinahe-Bruch der Bundesregierung, und zur Absetzung des Verfassungsschutzpräsidenten. Die politisch in zwei Richtungen wirkt:
2018 vervierfacht sich die Zahl rechter Gewaltverbrechen gegenüber dem Vorjahr, Neonazis patrouillieren als "Bürgerwehr". Gleichzeitig engagieren sich immer mehr Bürger gegen rechte Gewalt.
Schnell wurde einer der mutmaßlichen Täter verhaftet, der Syrer Alaa S., der gerade in erster Instanz zu 9 ½ Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Der andere, Farhad A. aus dem Irak, dem schon ein dutzend Straftaten vorgeworfen werden, ist flüchtig. Und weil beide Angeklagten Flüchtlinge sind, wird ihr Opfer Daniel H., 35, ein Deutschkubaner, zum Helden der rechten Szene. Und die Gewalttat zu einer Zäsur für eine Stadt, die schon vorher gespalten ist.
"Chemnitz hat schon immer eine starke rechtsextreme Szene"
Schon am Folgetag meldet die rechtsgerichtete Bürgerbewegung "Pro Chemnitz" eine Demonstration vor dem Karl-Marx-Monument an und es zeichnet sich früh ab, dass Hooligans und Rechtsextreme weit über die Stadtgrenzen hinaus mobilisiert werden. Am Ende kommen Tausende. Auf der Gegenseite: eine Kundgebung von ein paar hundert Demonstranten, angemeldet vom Bündnis "Chemnitz nazifrei", zu dem auch der Studierendenrat der TU-Chemnitz gehört.
Verena Traubinger: "Dass soviel Mobilisierungspotenzial da ist innerhalb von so wenigen Stunden, dass sich das so schnell rumgesprochen hat und so viele Leute kommen konnten, das war richtig krass."
Sebastian Cedel: "Chemnitz hatte schon immer eine starke rechtsextreme Szene seit den 90ern, aber an dem Tag war es seit Langem, dass am helllichten Tag gezeigt wird, wie das ausgelebt wird. Es war nie weg, glaub ich, es hat aber für militante Aufmärsche in der Qualität der Katalysator gefehlt. Und das Ereignis war es für Chemnitz, da haben verschiedene Akteure ihre Chance gewittert."
Sebastian Cedel: "Chemnitz hatte schon immer eine starke rechtsextreme Szene seit den 90ern, aber an dem Tag war es seit Langem, dass am helllichten Tag gezeigt wird, wie das ausgelebt wird. Es war nie weg, glaub ich, es hat aber für militante Aufmärsche in der Qualität der Katalysator gefehlt. Und das Ereignis war es für Chemnitz, da haben verschiedene Akteure ihre Chance gewittert."
Sebastian Cedel studiert Psychologie und Physik, Verena Traubinger Informatik. Beide engagieren sich im Studierendenrat der TU Chemnitz. Ein Flachbau außerhalb des Zentrums, gestutzte Rasenflächen, 20 Gehminuten von der JVA Chemnitz, wo Beate Zschäpe einsitzt – als Mitglied der Neonazi-Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund", des NSU, wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
Cedel und Traubinger waren bei den Demonstrationen im August 2018 dabei, als die Situation eskalierte – auch, weil die Behörden die Lage völlig falsch einschätzten.
Cedel: "Als der Mob sich in Bewegung gesetzt hat, auf diese Gegendemo zu, wie man über Mauern flüchten musste, wie dort Flaschen geflogen kamen, die Polizisten hatten zu kämpfen, die irgendwie zu halten, und schrien uns an, dass wir so schnell wie möglich wegrennen sollen. Die rechten Gruppen hatten Quarz-Handschuhe an. Aber die Polizei konnte nicht einschreiten, weil: Es waren nur 600 Beamte an dem Tag. Es gab Hinweise vom Verfassungsschutz, was für ein Mobilisierungspotenzial anläuft, trotzdem wurden vom Innenministerium keine Beamten geordert aus den anderen Ländern. Das war absolutes Staatsversagen an dem Tag."
Es war vermeidbar, findet auch Steven Seibert. Als eines von zwei Mitgliedern eines mobilen Teams des Kulturbüro Sachsen beobachtet er die rechte Szene schon länger.
Rechtes Spektrum wird breiter
Sein Büro liegt im ersten Stock eines Abrisshauses im Stadtteil Sonnenberg, in dem es schon lange Auseinandersetzungen mit rechten Gruppierungen und Kämpfe um kulturelle Hoheit gebe, zuletzt hätte man es vor allem mit "Nazi-Hipstern" zu tun gehabt. Das Spektrum sei breiter geworden. Zu ihm gehöre auch "Pro Chemnitz", das 2019 sogar im Verfassungsschutzbericht erwähnt wurde. Erstaunt war Seibert nur über die Größe der Netzwerke, als deutlich wurde, wie stark verschiedene Gruppen wie AfD, "Pro Chemnitz" oder "Der Dritte Weg" bundesweit miteinander verbunden sind.
"Es war eine neue Qualität, auch was das Spektrum, was gemeinsam auf der Straße war, betraf. Dieser Schulterschluss von 'normalen' Bürgerinnen und klarem Neonazi-Spektrum."
Darüber ist sich auch die Oberbürgermeisterin im Klaren. In ihrem Büro im Rathaus, Blick auf den Marktplatz, auf dem auch jeden Tag Markttag ist, verweist Barbara Ludwig darauf, dass dieses Problem aber ein gesamtdeutsches sei.
"Die Frage immer wieder auf ostdeutsche Städte zu reduzieren, verharmlost, vereinfacht und wird dem nicht gerecht. Für mich ist es eine wichtige Aufgabe, einerseits für die Ursachen des Rechtsextremismus bewusst zu sein, mehr zu tun. Aber auch in Anspruch zu nehmen, dass das ein Problem in der Bundesrepublik ist. Man muss mit viel mehr Konsequenz vorgehen, und bitte nicht erst, wenn jemand stirbt."
Dass die Situation aber gerade in Chemnitz eskalierte, hat Steven Seibert vom Kulturbüro nur begrenzt überrascht.
"Weil die Erzählung des 'Messermigranten' seit Ewigkeiten in den Sozialen Medien ventiliert wird von entsprechenden Leuten, und das war die Gelegenheit, darauf hat die Szene nur gewartet."
Tatsächlich ist das rassistische Stereotyp des Messerstechers nicht neu. Schon die Italienischen Gastarbeiter wurden in den 70er-Jahren als Spaghettifresser, Itaker oder eben Messerstecher beschimpft.
Gewalt, hasserfüllte Gesichter, stramme Nazis
Jetzt werde diese Erzählung vor allem von der Bürgerbewegung "Pro Chemnitz" ventiliert. Deren Chef ist Martin Kohlmann. In Shorts und Polo-Shirt sitzt er auf einem Ecksofa in seinem Büro, das frisch gestrichen ist: Pro-Chemnitz-Orange. An der Wand hängt gerahmt ein Gemälde von Kaiser Wilhelm, neben ihm liegt ein Mops auf einem Sessel.
"Dann hat mich mein Mitarbeiter angerufen und gesagt, irgendwo auf dem Stadtfest wurde wer umgebracht. Wir müssen was organisieren und dann haben wir die Demo angemeldet. Dann ging es los. Das Echo hat uns dann schon sogar selber ein bisschen überrascht. Mit 2000 Leuten haben wir schon gerechnet, aber es waren dann ja fast 10.000. Da waren wir auch bei der ersten Demo nicht vorbereitet, schon von der Technik her. Die Hälfte hat nichts gehört, weil unsere Boxen gar nicht dafür gedacht waren, so eine Riesenfläche zu beschallen. Aber organisatorisch lief es dann doch sehr diszipliniert und gut."
'Die Bilder, die dann um die Welt gehen, machen Chemnitz unfreiwillig berühmt. Bilder von Gewalt, von Feuerwerkskörpern, von hasserfüllten Gesichtern, von strammen Nazis, die ihren Arm zum Hitlergruß strecken.
'Die Bilder, die dann um die Welt gehen, machen Chemnitz unfreiwillig berühmt. Bilder von Gewalt, von Feuerwerkskörpern, von hasserfüllten Gesichtern, von strammen Nazis, die ihren Arm zum Hitlergruß strecken.
"Gucken Sie, 10.000 Mann waren da und fünf haben einen Hitler-Gruß gemacht. Ich denke, das ist eine Quote, da kann man ganz zufrieden sein. Fünf von 10.000, die sich nicht benehmen können. Da soll jede Demo stolz darauf sein, wenn sie so ein Schnitt hat."
Chemnitz – das deutsche Manchester
Die breite Öffentlichkeit sieht die Hitlergrüße als Fanal. Auch die sogenannten Hetzjagden: Das "Hase-Video" geht viral, führt zu einer Regierungskrise – und stürzt am Ende den Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, der in der "Bild Zeitung" die Echtheit des Videos angezweifelt hat: eines Videos, das eine Gruppe von Männern zeigt, die einen Migranten verfolgen, einen kleinen Tumult und eine Frau, die ihren Mann mit den Worten "Hase, du bleibst hier" davon abhält, mitzumischen. Opposition, Koalitionspartner und Medien kritisieren ihn, er relativiert seine Aussage, muss am Ende aber doch den Hut nehmen.
Immerhin: Am Wochenende nach der Tat demonstriert die Stadt, dass nicht die Mehrheit auf der Seite der Rechten steht. Die Stadt spricht von 65.000 Teilnehmern. Tausende, vielleicht Zehntausende, sind aus anderen Städten angereist, mit dem Konzert #wirsindmehr will man ein Zeichen gegen Rassismus und Gewalt setzen. Auch der Chemnitzer Rapper Trettmann ist dabei, mit seinem Song "Grauer Beton".
Chemnitz, im Südwesten Sachsens. 250.000 Einwohner, die drittgrößte Stadt im Freistaat nach Leipzig und Dresden. Das goldene Tor zum Erzgebirge wird sie manchmal genannt – oder auch: das deutsche Manchester. Tatsächlich war ein Drittel der Industrieproduktion der DDR in und um Karl-Marx-Stadt angesiedelt. Die Straßen sind breit, das Zentrum ist menschenleer. Chemnitz sei eine Stadt "auf den zweiten Blick", sagt die Oberbürgermeisterin.
"Man sieht dann, wenn man es will, wie viel Lebensqualität da ist: Kultur, Sport, Spitzensportler. Man kann gutes Geld verdienen, wir haben frische Luft, keine Probleme mit Abgaswerten. Wir haben kein Wohnungsproblem, man kann es sich aussuchen: In ehemaligen Fabriketagen wohnen, zu sensationellen Mieten oder im Gründerzeit-Jugendstilhaus. Wir bauen neue Schulen, Kitas, damit wir mithalten mit dem Geburtenzuwachs. Wir haben Kultureinrichtungen, ein Fünf-Sparten-Theater, genauso wie Sport uns wichtig ist."
Aber auch wenn die Regierungskrise ausgestanden ist – 2018 hat in der Stadt bleibende Spuren hinterlassen.
Barbara Ludwig: "Ich hätte mir das nie vorstellen können, dass viele Menschen, die nie in den ostdeutschen Ländern waren, so über uns sprechen. Das tut mir weh. Nicht nur für Chemnitz, sondern generell auch für den Prozess der Wiedervereinigung. Das ist wie so ein Brennglas, auch dieses Ereignis ist wie ein Brennglas, das da draufgedrückt wird."
Initiativen gegen Rechtsextremismus
"Es wird immer von 'Pro Chemnitz' und allen gesagt, das hier ist der gefährlichste Ort, wo wir jetzt sind, da sind nur schlimme Ausländer, alles ganz schlimm, sieht man ja, man spielt hier Ball." – Sabine Uhlmann, Mitglied der Initiative "Aufstehen gegen Rassismus", sitzt im Park vor dem Karl-Marx-Monument. Unter den Bäumen ein paar migrantische Jugendliche, die kicken. Uhlmann ist auch Mitbegründerin einer Anwohnerinitiative, die sich gegen das neue Bürgerbüro von "Pro Chemnitz" richtet. Zehn Minuten Fußweg sind es von hier zu ihrer alten Wohnung.
"Dort hinter dem Gebäude hat sich das Begegnungszentrum von 'Pro Chemnitz' eingerichtet. Wir können ja mal drei Schritte gehen… Die Akteure, von denen die erste Demo ausging, sind hier auch dabei, einschlägige bekannte Neonazis auch. Das sind keine Glatzen, sondern sportliche junge Männer, denen man nicht ansieht, dass die politisch aktiv sind."
Vor dem Haus steht eine Bierbank, ein paar Leute sitzen draußen. Die Fenster sind vollgeklebt mit "Pro Chemnitz"-Plakaten, darauf: "Nicht links, nicht rechts. Pro Chemnitz", "Heimat ist Zukunft", "Ordnung und Sicherheit". Man steht sich unversöhnlich und sprachlos gegenüber. Als Symbolfigur für die Feindschaft steht vor allem Gabi Engelhardt, eine Mitstreiterin von Sabine Uhlmann.
"Die ist schon immer sehr engagiert und eine Person, die Leute mitreißen kann und auch öffentlich bekannt. Oben vom Fenster wurde: Frau Engelhardt, Frau Engelhardt, gehen Sie nach Nordkorea (gerufen), Beleidigungen auch… Dann gibt es einen, der ist immer mit Schild unterwegs, da steht drauf, kann ich mal zeigen: 'Eine Schande für Chemnitz'. Ich muss mal suchen."
Uhlmann sucht auf dem Handy nach Fotos von den Plakaten.
"Muss mal kurz gucken. Und sowas: Vergewaltigung, Mord… Der hat verschiedene Schilder, aber immer ist der Kopf drauf."
Martin Kohlmann von "Pro Chemnitz" verweist auf Plakate der Gegenseite, mit demselben Slogan – nur dass eben er dort abgebildet sei.
"Hab ich nicht gesehen, solche Plakate. Ich dachte, Sie meinten die von der Frau Engelhardt ihrer Truppe, wo ich drauf bin, da steht Schande für Chemnitz."
"Pro Chemnitz" plant Schulungen für eine Bürgerwehr
Gleich fängt die Bürgersprechstunde an. Bürger sollen ihre Anliegen bei den Stadträten vorbringen können. Die ersten sind schon da und nehmen sich ein Getränk an der Bar. Ein paar Kinder sitzen auf dem Boden, zwischen Buntstiften und Bauklötzen.
"Pro Chemnitz"-Aktivist: "Da kommen immer Familien mit Kindern, da gibt es eine Spielecke, wo die bisschen spielen, wir machen was zu essen, schön kleine gemütliche Runde, mit politischen Themen, wo man sich ungezwungen unterhalten kann in lockerer Atmosphäre."
"Pro Chemnitz" will demnächst auch Schulungen für eine Bürgerwehr geben. Solche Streifen gab es auch schon 2015 und 2016.
Kohlmann: "Wir geben da rechtliche Hinweise, was man so als Streife darf und was nicht auch im Zusammenhang mit Straftaten und Notwehr; Nothilfe, Festnahmerecht, hat jeder, der eine Straftat beobachtet. Ziel ist eigentlich immer, auch zu deeskalieren. Wie geht man mit verschiedenen Leuten mit verschiedenen Hintergründen um."
Trotz dieser offensiven Maßnahmen sieht man sich hier eher als Opfer der Entwicklung und fühlt sich unverstanden.
"Pro Chemnitz"-Aktivist: "Auch ohne Pro Chemnitz'-Shirt wird man beschimpft, du Nazi, ist so… Damit muss man leben."
Wenzel: "Es wird negiert, dass die Ordnung in Chemnitz nachgelassen hat. Man kann nicht, besonders nach 2015, in den Abendstunden nicht mehr. – Sie sagen, das sind Einzelfälle. Aber wenn ich zehnmal durch die Stadt geht und ich geh neunmal sicher durch die Stadt, aber mir reicht das eine Mal, das ich unsicher durch die Stadt gehe."
Autorin: "Ist ihnen mal was passiert?"
Wenzel: "Nein. Aber es ist genug passiert! Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich meine Sammlung mitgebracht aus der örtlichen Presse mit allen Vorfällen aus 2015. Das Messer wird langsam Weltkulturerbe hier in Deutschland, meine Mutter hat noch Gemüse geputzt mit dem Messer. Diese Kultur der Messerstecher hier, die bringt die Leute auf die Straße."
Das Gefühl von Unsicherheit
"Nein! Das ist überhaupt nicht so!" – Der Verkäuferin beim Bäcker neben der "Galeria Kaufhof" jedenfalls sind solche Ängste fremd. Tatsächlich ist Chemnitz laut Statistiken einer der sichersten Orte in Deutschland.
Verkäuferin: "Ich muss frühzeitig anfangen zu arbeiten, da sind viele Leute unterwegs, viele gehen im Finstern. Da ist nichts, in den Bussen nicht, an der Zentralhaltestelle nicht. Ich hab das Gefühl, es wird viel erzählt. Also ich bin ja vor fünf Jahren hergezogen, da gab es auch schon Übergriffe, das hatte aber nie was mit Zuwanderern zu tun."
Vor einiger Zeit hat die Stadt Kameras in der Innenstadt installiert, beim Stadtordnungsdienst und bei der Polizei aufgestockt. Das reiche aber nicht, um die Sicherheit zu gewährleisten, findet "Pro Chemnitz", findet die AfD. Eine Waffenverbotszone wäre das Mindeste, sagt Diana Rabe, Stadträtin für die AfD Chemnitz und 30 Jahre alt. Auch sie selbst traue sich kaum allein durch die Stadt:
"Das ist so vielen passiert, dass jeder zumindest irgendjemand im Bekanntenkreis hat, dem es mittlerweile schon passiert ist, dass er von Migranten angepöbelt wurde auf sexuelle Weise oder irgendwie bedrängt oder belästigt wurde."
Auch Tino Schneegass sitzt für die AfD im Stadtrat. Im Fenster des Parteibüros sind die Wahlergebnisse der letzten Kommunalwahlen ausgehängt: Rekordergebnisse in fast allen Bezirken.
AfD fährt in Chemnitz Rekordergebnisse ein
Womöglich hat auch der Tod an Daniel H. der Partei Aufwind gebracht. Die Leute hätten seitdem vollends das Vertrauen in Medien und Politik verloren, sagen Rabe und Schneegass.
Schneegass: "Ich habe viel gelernt, wie Meinung gemacht wird. Ich habe das richtig gesehen. Die fahren dort vorbei, das Kamerateam von 'n-tv' steigt dort aus, der zeigt da, wo er filmen soll, und mit einem Mal gehen die Arme zum Hitlergruß hoch. Die haben dort gefilmt, mit einem Mal ging das los. Dann stehen bei der Gegendemonstration auf der linken Seite Migranten, zeigen den Stinkefinger und rufen: Nie wieder Deutschland!"
Rabe: "Da haben viele Leute verstanden, dass was ganz doll schiefläuft."
Schneegass: "Es wird schon eine Meinung vorgegeben, und das erkennen viele DDR-Bürger, Parallelen zur DDR, das gab es ja auch."
"n-tv" dementiert: Man habe nur abgebildet, was geschehen sei, und die Menschen, die sich mit verfassungsfeindlichen Symbolen und Gesten gezeigt hätten, hätten dies auch ohne Kameras getan.
In einem allerdings sind sich AfD und ihre Gegenspieler einig: Dass nicht differenziert wird, dass Chemnitz verleumdet wird, nach dem Motto: Wir haben es schon immer gesagt, Chemnitz ist braun und bleibt braun, alles Nazis.
Die Verrohung der Sprache bereitet den Boden für Extreme
Ines Vorsatz: "Ich meine, wenn man einen rechten Standpunkt hat, der jetzt nicht normal rechts ist und nicht radikal ist oder keine extremistischen Ansätze hat und man wird überhaupt nicht gehört und nur als Nazi abgestempelt, obwohl man eigentlich halt eine legitime Sichtweise hat, dann radikalisiert man sich eben auch mit der Zeit."
Der Kampf gegen diese Radikalisierung ist der Job von Ines Vorsatz. Vorsatz war schon zu DDR-Zeiten in der Bürgerbewegung aktiv, heute leitet sie die "Koordinationsstelle Lokaler Aktionsplan".
Sie sagt: Ganz unschuldig an der Entwicklung ist die AfD nicht – schon die Verrohung der Sprache bereite den Boden für Extreme. Aber sie räumt ein, dass Chemnitz schon länger Probleme mit Rechtsextremismus hat.
"Eigentlich ging das schon nach der Wende los, dass hier erste Strukturen waren, dann ist der NSU hier untergetaucht. Wir hatten schon länger eine rechtspopulistische Szene, die sich jetzt sehr radikalisiert hat. Das ist schon eine größere Nummer hier."
Ihre Mittel gegen die Radikalisierung: politische Bildung, Lesen gegen Gewalt, Gedenkstättenfahrten. Über Dialogformate Menschen zusammenbringen, die sonst nicht miteinander sprechen, auf dem Marktplatz oder an der Wohnungstür. Das Budget für solche Aktionen wurde 2018 von 80.000 auf 380.000 Euro aufgestockt – doppelt so viel hätte sie brauchen können, sagt Vorsatz. Ein Gewaltakt als Zäsur.
"Das war den Leuten wichtig, den Rücken zu stärken, zuzuhören, um das zu verarbeiten, um das zu bewältigen. Wir haben Trauma-Bewältigung gemacht. Dieses Ohnmachtsgefühl gegenüber der Masse von Leuten, die hier bundesweit eingerückt ist."
Studenten überlegen zweimal, ob sie sich an der Uni einschreiben, manche Unternehmen suchen händeringend nach Mitarbeitern. Beim Studierendenrat gingen in der Woche nach den Ereignissen Anrufe von Studierenden ein, die noch in den Semesterferien waren.
Wer Kopftuch trägt, ist oft Anfeindungen ausgesetzt
Bis heute hält die Angst an, auch bei den Mitarbeitern und Besuchern von "Agiua", einem Verein für Migrations- und Jugendarbeit:
Suad Al Nasser, 35, ist vor sieben Jahren aus dem Irak nach Chemnitz gekommen. Ihr Kopftuch bringt ihr immer wieder Beleidigungen ein und auch ihre Kinder erleben Anfeindungen:
"Zum Beispiel: Ich war auf dem Spielplatz mit meinen Kindern und mein kleines Kind wollte Hund anfassen und er hat gesagt, die Ausländische muss raus, das ist unser Platz. Hat gesagt, alle Leute mit Kopftuch raus! Oder wenn ich kaufe etwas von Lidl und jemand redet hinten und sagt: Oh, das ist unser Geld! Das dürft ihr nicht! Ich wollte sagen, ich habe eigene Arbeit und nicht alle Leute kriegen Geld."
Sicher habe es auch früher Übergriffe gegeben, Leute wurden beleidigt oder in der Straßenbahn bespuckt. Aber 2015, 2016 sei die Stimmung gekippt, sagt der Afghane Ali Ahmadi, der den Verein leitet.
"Man hat jeden Tag in Chemnitz Begegnungen, und man sieht das und auch in den Augen, das hat im Innern von vielen geändert. Dass man das nicht aussprechen möchte, aber ich hab das Gefühl, dass jeder eine Wut in sich hat und das nicht aussprechen kann, und dazu führt, dass man einen anderen Weg wählt."
Auch Steven Seibert vom Kulturbüro beobachtet, dass sich besonders nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. der Alltag verändert hat.
"Auch so Situationen aus dem Privaten, wie in der Bäckerschlange, wie das verhandelt wird. Das sind Schlaglichter, aber wo unheimlich viel Verständnis für die Übergriffe stattfinden und es gutgeheißen wird, dass Bürger mit Nazis auf den Straßen sind, das wird gutgeheißen und gerechtfertigt."
Auch heute sei das Mobilisierungspotenzial noch da und auch ein gewaltbereites Publikum. Aber die Behörden hätten aus den Ereignissen gelernt. Und der Fall Daniel H. hat viele Bürger politisiert, sagt die Bürgermeisterin: Zu Anti-Rechts-Veranstaltungen, wie etwa zum Kosmos-Festival, kämen inzwischen mehrere Zehntausend Menschen, es gebe ein viel bewussteres Einstehen für die Stadt.
Ludwig: "Was ich sagen kann, dass für die Chemnitzer sich etwas geändert hat. Wenn die vorher unterwegs waren, hat man so ein bisschen gefragt: Chemnitz? Wo liegt das eigentlich? Und wenn die Chemnitzer jetzt unterwegs sind, werden sie in der Regel eine irritierte Reaktion bekommen: Aus Chemnitz, oh Gott! Das mobilisiert, das hab ich schon mehrfach erlebt, das wollen die Chemnitzer nicht auf sich sitzen lassen."
Schweinegrill zum Zuckerfest
Eine kleine Bewährungsprobe gibt es Anfang Juni 2019: Muslime feiern ihr Zuckerfest, das das Ende des Ramadan markiert, in der Innenstadt, und "Pro Chemnitz" meldet in Riech- und Sehweite ein Schweinegrillen an.
"Pro Chemnitz"-Aktivist: "Unser Stadtfest wird aus Sicherheitsgründen angeblich abgesagt, aber dann wird mit Steuergeldern ein Zuckerfest gefeiert, was Ende des Ramadan einläutet, und wir dürfen nicht feiern. Deshalb hatten wir dann ein Schweinegrillen – Was friedlich war."
Fast ein Jahr ist es mittlerweile her, dass Daniel H. mit nur 35 Jahren starb. Sein Tod scheint fast vergessen. Aber als Politikum taucht er auch jetzt immer wieder auf: Im Rahmen des Zuckerfests kommt es zu einem Zwischenfall: Zwei "Pro Chemnitz"-Sympathisanten werden von zwei Männern angegriffen, wieder spielt ein Messer eine Rolle.
Für "Pro Chemnitz" liegt die Schuld klar bei den Angreifern, die kursierenden Videos belegen das zwar nicht, aber die seien so eingekürzt, dass man nur sehe, was nach der Attacke passiert ist. Wieder folgt ein Aufruf, sich am Karl-Marx-Monument zu versammeln. Das ruft Erinnerungen an 2018 wach. Aber am Ende kommen diesmal nur rund 100 Menschen zusammen. Die Gegenseite, zum Beispiel der Studierendenrat, hält den Angriff für eine Provokation, für einen Fake.
Die Bewährungsprobe hat Chemnitz also fürs Erste bestanden. Aber viele kritisieren, dass mehr Energie auf Imagepflege gelegt werde als auf Problemlösungsstrategien.
Wie gegen die Hetze und den Hass vorgehen?
In den Fenstern des kastenförmigen zentralen Hörsaals der TU Chemnitz leuchtet in Regenbogenfarben der Schriftzug #wirsindchemnitz. Das halten Traubinger und Cedel vom Studierendenrat genauso für Makulatur wie die Chemnitz-ist-weder-grau-noch-braun- Image-Kampagne der örtlichen Industrie und der Marketing- und Wirtschaftsförderung der Stadt.
Cedel: "Das waren bunte Buchstaben an Gebäuden, das war erschreckend, man hat dieses Versagen auf so vielen Ebenen grade nach den Ereignissen so glasklar sehen können, wie die Reaktionen ausfielen."
Traubinger: "So typisch, man klatscht irgendwo ein Bild oder Schriftzüge hin, um zu zeigen: Wir sind nicht alle rechts. Hilft aber nicht, wenn man nur das Ding hinhängt und nicht danach handelt."
Die Oberbürgermeisterin hingegen findet es wichtig, dass die Wirtschaft die Zivilgesellschaft stützt. Und dass die laufende Kulturhauptstadt-Bewerbung den Titel "Aufbrüche" trägt, habe eine tiefere Bedeutung:
"Das ist immer wieder Thema in dieser Stadt gewesen. Aufbrechen muss man dann, wenn es vorher einen Zusammenbruch gab. Und das hat die Stadt schon mehrfach erlebt, alle Höhen der Industriegeschichte, der letzten 150 Jahren haben sich hier abgespielt, die Tiefen auch. Wenn man sich die Geschichte der Stadt anschaut, dann sieht man das Potenzial, aus Niederlagen aufzustehen und daraus auch Lehren zu ziehen und sich neuen Dingen zuzuwenden."
Dazu gehöre auch das friedliche Miteinander von Migranten und Einheimischen, für das sich auch Ines Vorsatz einsetzt – und die darauf verweist, dass das Schicksal von Chemnitz aber nicht allein in der Hand der Stadtverwaltung liegt:
"Als Stadt Chemnitz haben wir uns wirklich viel Gedanken gemacht: Leute unterstützt, Netzwerke geknüpft. Was uns Probleme bereitet, ist, dass Menschen wie Aktive von 'Pro Chemnitz' ihre Hetze weiter verbreiten können, die im Verfassungsschutz als Rechtsextremisten gelistet sind und sich drüber lustig machen, weil es aus dieser Benennung im Verfassungsschutz-Bericht keine Konsequenzen gibt, die können nach wie vor gewählt werden, als Bürgerinitiative oder Partei, sich weiter äußern, ihr Facebook-Account wird nicht gesperrt.
Es gibt ja den schönen Satz von der wehrhaften Demokratie. Die erlebe ich jetzt eher als zahnlos. Wir haben den Eindruck, das Rechtspopulisten und Rechtsextremisten machen können, was sie wollen und es passiert nichts."
Hören Sie dazu auch ein Gespräch mit unserer Korrespondentin Nadine Lindner.
Audio Player