Es gibt diesen legendären, für Chemnitz inhalierten Spruch: In Chemnitz wird es gemacht, also hergestellt, in Leipzig auf der Messe wird es verklingelt und in Dresden verprasst. So haben sich die Chemnitzer dann die Welt schöngeredet.
Kulturzentrum „Das Tietz“ in Chemnitz
Im Herbst 1913 wurde das Warenhaus Tietz in Chemnitz eröffnet. © picture alliance / akg images
Ein Kaufhaus erzählt die Geschichte eines Jahrhunderts
16:20 Minuten
Chemnitz wird Kulturhauptstadt Europas. Was ist das für eine Stadt? Wie wurde sie, was sie ist? Ein Ort, der die Stadtgeschichte beispielhaft vermittelt, ist „Das Tietz“: Ein ehemaliges Kaufhaus in zentraler Lage, das heute ein Kulturzentrum ist.
Eine breite, mehrspurige Autostraße führt vom Chemnitzer Bahnhof leicht bergab in Richtung Innenstadt. Als Fußgänger fühlt man sich etwas fehl am Platz, wie so oft in autogerecht geplanten Städten, deren Zuschnitt ganz unverkennbar aus dem technokratischen Zeitalter nach dem Zweiten Weltkrieg stammt.
Aber von Weitem schon zieht eine imposante Fassade den Blick auf sich – das 85 Meter breite und 27 Meter hohe Kaufhaus Tietz.
„Eine Einkaufsstätte allergrößten Stils“
„Dieses Monument deutscher Arbeit soll als vornehmstes Geschäftshaus Sachsens eine Einkaufsstätte allergrößten Stils werden“, versprach im Oktober 1913 das Eröffnungsinserat im Chemnitzer Tageblatt: „Heute steht dieses Bauwerk, das eine Sehenswürdigkeit für Chemnitz und die weitere Umgebung werden wird, in seiner monumentalen Ausdehnung fertig, um in wenigen Tagen dem pulsierenden Leben der Masse zufriedener Käufer erschlossen zu werden.“
In einer anderen ganzseitigen Zeitungsannonce zieht Kaiser Napoleon Bonaparte höchst selbst den Vorhang auf, hinter dem die Kaufhausfassade erscheint.
Man verstand damals die Anspielung sofort, war doch im Herbst 1913 das bestimmende Thema landauf landab das 100-jährige Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig, in der Preußen, Russen und Österreicher den französischen Imperator besiegten. In Leipzig war gerade das Völkerschlachtdenkmal eingeweiht worden – und auch das gehörte zur Anspielung.
Erbaut vom Architekten Bruno Kreis
Denn beinahe wäre der Architekt des Kaufhauses Bruno Kreis auch der Erbauer des Völkerschlachtdenkmals geworden. Lange firmierte sein Entwurf als Favorit. Wilhelm Kreis hatte sich einen Namen gemacht mit zahlreichen Bismarcktürmen, mit dem Burschenschaftsdenkmal in Eisenach, dem Museum für deutsche Vorgeschichte in Halle.
Für die Familie Tietz hatte Kreis unter anderem in Elberfeld und Düsseldorf Warenhäuser errichtet.
„Wilhelm Kreis ist vielleicht bekannt durch das Hygiene-Museum in Dresden und durch andere Bauten. Er war einer der bedeutendsten Architekten damals in Deutschland, im Kaiserreich, und da gab es eine enge Beziehung zwischen Wilhelm Kreis und auch Familie Tietz“, sagt der Historiker Jürgen Nitsche.
Er hat mehrere Bücher verfasst über jüdisches Leben in Sachsen vor dem Holocaust. Zwangsläufig stieß er dabei auf Ableger der verzweigten Familie Tietz, deren Urahn Hermann Tietz Namensgeber für die Kaufhauskette „Hertie“ war. Aus den Warenhäusern seines Neffen Leonhard Tietz ging später die heutige Galeria Kaufhof GmbH hervor. Und auch in Sachsen investierte die Familie.
„Julius Tietz zum Beispiel hatte ein Kaufhaus in Plauen. Heinrich Tietz hatte ein Kaufhaus in Greiz. Es war ein riesengroßes Imperium. Fast jeder Vertreter der Familie Tietz hatte ihre eigenen kleinen Firmen- und Kaufhausketten“, erklärt der Historiker.
Ein Neubau für die sächsische Industriemetropole
Inhaber des monumentalen Neubaus in Chemnitz waren Julie Tietz und ihr Mann Gustav Gerst, Hermann Fürstenheim führte die Geschäfte – und die liefen gut!
„Chemnitz war die sächsische Industriemetropole. Eigentlich gab es ringsum nur Rauch, Schlote“, sagt der der Verleger Jörn Richter. Er ist mit seinem Heimatland-Verlag ganz auf sächsische Geschichte spezialisiert und hat auch dem Kaufhaus Tietz ein Buch gewidmet.
Jörn Richter kennt natürlich die Bezeichnung „Rotes Chemnitz“ für die nach dem Ersten Weltkrieg stark vom Arbeitermilieu geprägte Industriemetropole. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Wahr ist auch, dass auch in Chemnitz an vielen Schaltstellen Konservative und Nationale das Ruder in der Hand hielten. Vielleicht ist es kein Zufall, dass im Bestand des Rundfunkarchivs ausgerechnet ein Zapfenstreich der Reichswehr die einzig erhaltene Tonaufnahme aus Chemnitz vor 1933 ist.
Und natürlich gab es unabhängig von der politischen Ausrichtung auch eine starke bürgerliche Schicht der Ingenieure und Fabrikanten, der Rechtsanwälte und Ärzte und einen aufstrebenden Mittelstand aus den zahlreichen Betrieben der Textilindustrie und des Maschinenbaus.
Diese konsumfreudige Klientel sprach das Kaufhaus Tietz an – mit Erfolg. In den „Goldenen Zwanzigern“ gab es Anbauten und Erweiterungen, das Kaufhaus hatte über tausend Mitarbeiter und war ein echter Wirtschaftsfaktor für die Stadt.
Der Bruch 1933
Und dann, am 1. April 1933, der Bruch: Boykottaufruf der Nazis gegen jüdische Geschäfte: „Der Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand setzte auch das Haus Tietz auf die Liste. SA und SS-Männer zogen vor den jüdischen Lokalen und Geschäftshäusern auf. Sie hatten Plakate umgehängt ‚Deutsche kauft nur bei Deutschen!‘“ Das berichten Richter und Nitsche in ihrem Buch „Das Tietz Chemnitz“.
Anfang April 1933 wird der jüdische Rechtsanwalt Arthur Weiner aus Chemnitz brutal ermordet. Boykott und Einschüchterung führen zu drastischen Umsatzeinbußen auch im Tietz. Annoncen sind bald nur noch in jüdischen Zeitungen möglich. Geschäftsführer Fürstenheim lässt dennoch den Eingangsbereich modernisieren. Auswandern kommt für ihn nicht infrage, als Frontkämpfer des Weltkrieges fühlt er sich geschützt.
Geschäftsführer erschossen, Inhaber geflohen
Im November 1938, in der sogenannten „Reichskristallnacht“, rächt sich diese Illusion.
„Wie es genau ablief, ist bis heute nicht genau klar, ob das auf Eigeninitiative von lokalen SA- oder SS-Leuten hier geschah. Stark anzunehmen, man weiß es nicht genau“, sagt der Historiker Jürgen Nitsche. „Auf alle Fälle sind vier Personen zwei SS und zwei SA, etwa früh am Morgen gegen fünf halb sechs in die Villa von Hermann Fürstenheim auf dem Kassberg gelegen eingedrungen. Hermann Fürstenheim und seine Frau schliefen noch.
Und weiter: „Hermann Fürstenheim sollte, da gibt es Aussagen, entführt, ins Kaufhaus Tietz verschleppt, dort ermordet und samt Kaufhaus angebrannt werden. Ob das wirklich so ist? Aber ich habe sie mindestens gefunden. Das ist sicher, dass es Hinweise gab, dass das der Plan war. Aber er hat sich standhaft dort gewehrt. Er hat sich, gibt es Aussagen an dem Geländer im Kellergeschoss, festgeklammert, er wollte partout nicht mitgehen.
Hermann Fürstenheim wird in seinem Haus erschossen. Seine Frau kann fliehen. Auch die Inhaber des Kaufhauses Julie Tietz und Gustav Gerst gehen ins Exil.
Die Warenhausfirma wird von den Nazis in den Konkurs geführt, das Haus selbst wird als Lagerraum genutzt, militärisch, vom Marinebekleidungsamt. Aber es steht noch – bis 1945.
Als am 5. März 1945 ein schweres Bombardement die Chemnitzer Innenstadt zerstört, wird auch das Tietz schwer getroffen. Nur seine Konstruktion aus Stahlbeton verhindert einen Totalschaden.
„Das Pompeij des Perm“ in Chemnitz
Wer heute das Kulturkaufhaus Tietz betritt, den empfängt ein heller Lichthof. Früher – das zeigen alte Fotos – standen hier Verkaufsvitrinen. Herrenanzüge, Herrenhüte, feinster Stoff und feinste Mode. Heute recken sich Steinsäulen dem Glasdach entgegen – es sind versteinerte Bäume, die in Chemnitz ausgegraben wurden. „Das Pompeij des Perm“ - so wird dieser steinerne Wald aus erdgeschichtlicher Frühzeit genannt, als ein Vulkanausbruch hier ein komplettes Biotop begrub.
Ende Juli präsentierte Chemnitz‘ Pressesprecher Matthias Nowak im Tietz einen neuen Sensationsfund: einen Dachschädellurch.
„Der versteinerte Wald ist ja ein riesengroßes Fundareal in Chemnitz aus der Permzeit, also 291 Millionen Jahre alt“, erklärt er. „Aus dieser Zeit sind im Rahmen des versteinerten Waldes, der hier in einer Tropenzone lag, jetzt jede Menge Fundstücke aufgetaucht und das ist sozusagen das bisher Einzigartigste. Die Wissenschaftler vergleichen das mit dem Archäopteryx im Berliner Naturkundemuseum von der Einzigartigkeit her.“
Das paläobiologische Wesen trägt Chemnitz in seinem lateinischen Namen. Dass es hier im Tietz der Weltöffentlichkeit vorgestellt wird, hängt mit dem Umbau des Kaufhauses zum Kulturkaufhaus im Jahr 2004 zusammen.
Kulturzentrum mitten in Chemnitz
Seither residiert auch das Naturkundemuseum der Stadt in den alten Verkaufsflächen links und rechts der Lichthöfe. Im selben Haus vereint mit Stadtbibliothek, Neuer Sächsischer Galerie und Volkshochschule. Ronny Rößler ist der Direktor des Naturkundemuseums.
„Wir haben gemerkt, dass wir hier richtig ins Herz der Stadt ziehen in dieses Tietz. Es ist ein wunderbares Gebäude“, sagt er. „Wir wissen selber, dass in Chemnitz wenig den Zweiten Weltkrieg überlebt hat. Und wenn man ein Gebäude von 1913 dann mit seinen Sammlungen und Arbeitsräumen füllen kann, dann ist es eine große Wertschätzung“, sagt er.
Dass aus dem von den Nazis zugrunde gerichteten Warenhaus der jüdischen Familie Tietz einst ein Kulturkaufhaus werden würde, war nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt nicht absehbar, berichtet der Chemnitzer Lokalhistoriker und Verleger des Heimatland-Verlages Jörn Richter.
„Am 5. März wurde Chemnitz bei einem Luftangriff, es gab mehrere, das war der verheerendste, wurde vor allen Dingen die gesamte Innenstadt zerstört. Man muss sagen, die Innenstadt war sehr dicht bebaut, und die Brandbomben, die haben im Prinzip alles ausgebrannt“, erzählt er.
Es blieben nur die wenigen aus Stahlbeton konstruierten Häuser stehen, unter ihnen das dennoch schwer beschädigte Tietz. Doch schon zum Weihnachtsgeschäft 1945 wurde wieder gehandelt.
ERWA – Neustart nach dem Zweiten Weltkrieg
„Das Verwaltungsgebäude, das war schon ein Glücksumstand, dass da am 1. Dezember 1945 in dem Anbau ein neueres, kleineres Kaufhaus entstanden ist“, sagt der Historiker Jürgen Nitsche. „Und zwar von diesem ehemaligen Personalchef Dr. Walter Müller. Der wollte das Tietz unbedingt wieder zum Leben erwecken. Er hat dann dieses kleine Kaufhaus ‚Erzgebirgisches Warenhaus ERWA‘ genannt. Er hat damals einen Umstand genutzt: Das Tietz galt als herrenloses Eigentum und deswegen konnte er das herrenlose Eigentum dann auch nutzen.
Walter Müller richtet eine Tauschzentrale und eine Wärmestube ein und organisiert Kulturveranstaltungen in den nutzbaren Räumen des kaputten Kaufhauses.
„Ich denke, das war ganz wichtig damals, dass es in Chemnitz solche Möglichkeiten gab. Da hat sich Walter Müller große Verdienste erworben. Er war ja Sozialdemokrat, ein ziemlich anerkannter vor 1933 in Dresden tätig, dann kam er wieder zurück nach Chemnitz und er war Gegner der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED“, erklärt Jürgen Nitsche. „Deswegen wurde er 1948 gewarnt, dass er bald verhaftet werden würde in der SBZ und deswegen ist er dann über Nacht mit Unterlagen fort aus Chemnitz nach Westdeutschland.“
Walter Müller, der ein enger Vertrauter des Eigentümers Gustav Gerst gewesen war, wollte wohl eigentlich die ganze Immobilie übernehmen. Gerst hatte ihm in der Bedrängnis der NS-Zeit in dieser Richtung Hoffnung gemacht. Die jüdische Familie aber konnte nicht mehr über ihren ehemaligen Besitz verfügen.
Keine Restitution an die jüdischen Eigentümer
„Man hat nur die Anträge entgegengenommen für Wiedergutmachung für Restitution. Man hat aber gesagt, man wartet auf ein gesamtdeutsches Gesetz. Dann so ab 1950/51 hat man dann oftmals gesagt: Das jüdische Eigentum war ja Eigentum von jüdischen Kapitalisten. Dann hat man irgendwann entschieden: Es gibt keine Wiedergutmachung“, sagt der Historiker.
Als neuer Nutzer tritt die KONSUM-Genossenschaft auf den Plan, die in der seit 1954 nach Karl Marx benannten Stadt ihr Versandhaus betreibt.
Mit Rundfunkwerbung, versteht sich: „Man spricht vom Konsument! Kein Wunder, Gutes spricht sich schnell herum. Immerhin gibt es bereits sich zehn Konsument Warenhäuser in der DDR, und das Konsument Versandhaus in Karl-Marx-Stadt bietet weit mehr als 5000 Artikel an!“
1965 wird das Tietz in der Trägerschaft der staatlichen Handelsorganisation HO umfangreich saniert – mit modernistischem Interieur und Rolltreppe. Als CENTRUM-Warenhaus durchlebt es die Höhen und Tiefen der DDR-Mangelwirtschaft.
Grundstückstausch nach der Wende
Nach der friedlichen Revolution fällt das Gebäude an den Kaufhof-Konzern. Dem ist das in die Jahre gekommene Gebäude bald eine Last, ein Neubau soll her, um mit den überall aus dem Boden gestampften Shopping Malls auf der Grünen Wiese konkurrieren zu können:
„Dann gab es einen Ringtausch. Die Stadt hat dann dem Kaufhof-Konzern ein ganz tolles Grundstück angeboten, mitten in der Innenstadt, direkt neben dem Rathaus als Ringtausch“, erzählt Jürgen Nitsche. „Die beiden Standorte Schocken und Tietz erhält die Stadt und Kaufhof erhält dann dafür diesen Standort, wo jetzt die Galeria Kaufhof steht.“
In einem großen Kraftakt saniert die Stadt das 17.000 Quadratmeter fassende historische Gebäude als Kulturzentrum. Die alten Lichthöfe werden wieder freigelegt, als Mieter ziehen 2004 Naturkundemuseum und Volkshochschule sowie die Neue Sächsische Galerie und die Stadtbibliothek ein.
Kulturkaufhaus mit Nachlass von Stefan Heym
Im MDR berichtet später die Bibliotheksangestellte Albertina Fischer: „Kein Vergleich zu vorher! Es kommen viel mehr Leute in die Bibliothek, die vorher gar nicht wussten, dass es die Stadtbibliothek gibt.“
Auch der damalige Manager des Kulturkaufhauses Tietz, Werner Rohr, war hochzufrieden: „Wir haben in den ersten 100 Tagen gut 200.000 Besucher – wenn man bedenkt, dass die Einrichtungen, die hier untergebracht sind, im Jahr 2003 insgesamt 300.000 hatten, dann ist das fast eine Verdreifachung!“
Seither sind fast 20 Jahre vergangen. Heute stehen im Erdgeschoss des Kulturkaufhauses Tietz Geschäfte leer. Dennoch: Seit 2021 schmückt sich das Tietz mit einer neuen Kultureinrichtung. Die Bibliothek aus dem Nachlass des in Chemnitz geborenen Schriftstellers Stefan Heym hat nun einen würdigen Platz.
Sein berühmter Ausspruch von der großen Demonstration am Berliner Alexanderplatz im November 1989 kann vielleicht auch ein Motto sein für das Kulturhauptstadtjahr 2025 in Chemnitz: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen.“