Warum in London HIV-Infektionen zunehmen
Chemsex ist ein Trend, der momentan in Großbritannien und vor allem in London grassiert: Eine gefährliche Verbindung von Dating-Apps, harten Drogen und ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Experten befürchten eine zweite HIV-Welle.
Tony: "Ich habe zwei Profile."
− Warum zwei?
"Eines für ungezogene Dinge und eines für sichere Dinge."
− Eines für die Liebe, eines für Sex?
"Nein, eines für Sex ohne Kondom, eines für sicheren Sex."
Tony ist 43 Jahre alt. Wir sitzen auf seinem Sofa in seiner Drei-Zimmer-Wohnung im Osten von London. Auf seinem Smartphone hat er die Dating-App "Grindr" geöffnet. Auf dem Display kann er sehen, in welcher Entfernung andere schwule Männer angemeldet sind. Er sieht auf ihren Profilen ein Foto. Dazu Angaben zum Alter, zur Körpergröße, manchmal auch zu ihren sexuellen Vorlieben. Es geht hier um Dating und darum, sich zum Sex zu verabreden. Zwei Millionen Menschen weltweit nutzen die App, die meisten in den USA und Großbritannien.
"Mir schreiben mehr Leute auf dem Ohne-Kondom-Profil."
− Wirklich? Warum ist das so?
"Weil die Leute einfach eher daran interessiert sind."
Die Wohnung von Tony ist penibel aufgeräumt – das ist ihm wichtig. Seit zehn Jahren ist er HIV-positiv. Täglich nimmt er Medikamente, die seine Virenbelastung so gering halten, dass er andere nicht anstecken kann. Ab und an veranstaltet er hier sogenannte Chemsex-Partys – "Chem" wie "Chemistry", Chemie. Organisiert mit "Grindr". Ein paar Chats, ein paar Klicks und schon klingelt es an der Tür. Angefangen hat für Tony alles, als seine Beziehung nach 20 Jahren in die Brüche ging:
"In der Sexszene, mit den Drogen und mit "Grindr" – die Leute gehen nicht mehr aus. Sie bleiben zu Hause, sie angeln sich jemanden und lassen sich dann unterhalten. Warum noch ausgehen?"
Solch eine Party kann dann schon einmal mehrere Tage dauern. Die schwule Szene, die Gesundheitsbehörden und die Politik haben in London zurzeit mit diesem Phänomen zu kämpfen. In privaten Wohnungen wie der von Tony werden harte Drogen konsumiert. Mephedron, Crystal Meth oder GHB – auch bekannt als Liquid Ecstasy. Immer mehr Menschen werden abhängig oder stecken sich mit dem HI-Virus oder anderen sexuell übertragbaren Krankheiten an.
Tony: "Crystal Meth ist eine der wichtigsten Sexdrogen. Als ich angefangen habe, die zu nehmen, hat ein Gramm 240 Pfund gekostet."
− Das hast du bezahlt?
"Ja, wenn du es willst, musst du es bezahlen."
− Wie viel Geld gibst du monatlich für Drogen aus?
"I don't know."
In der Klinik für Sexualkrankheiten
London ist die Hauptstadt der Chemsex-Partys in Europa. Gerade einmal drei Prozent in der Lesbian-Gay-Trans-Bi, kurz LGTB-Community, die 2005 wegen Drogenproblemen bei einem Arzt vorstellig wurden, kamen wegen Crystal Meth, Mephedron oder GHB. 2012 waren es 85 Prozent. Fast immer mit dem Hintergrund, die Mittel im Zusammenhang mit Sex zu konsumieren.
In der 56 Dean Street im Viertel Soho befindet sich eine Klinik für Sexualkrankheiten des staatlichen Gesundheitssystems NHS. Es ist die größte in Großbritannien. 7.000 schwule Männer kommen jährlich, 3.500 von ihnen hatten Kontakt zu den harten Drogen und den Partys.
David Stuart beschäftigt sich hier mit diesen Patienten. Wobei kaum jemand direkt wegen der Drogen kommt, sondern beispielsweise, um einen HIV- oder Syphilis-Test zu machen:
"Schwule Männer im Vereinigten Königreich haben schon immer mehr Drogen genommen als heterosexuelle Männer. Aber es waren nicht die harten Drogen, wie Heroin oder Kokain. Es waren Partydrogen wie Extasy und Speed und so weiter. Es war nie ein großes Problem. Wir hatten in den letzten Jahrzehnten keine große Anzahl an Leuten, die deswegen in die Notaufnahmen kamen. Wir hatten keine große Anzahl an Leuten, die körperlich abhängig waren. Auch nicht so viele Menschen, die durch Überdosierungen starben."
Doch genau das ist heute der Fall. Durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch verabreden sich Männer zum Sex mit Drogen. Vielen helfen die Amphetamine dabei, Barrieren abzubauen. Sie sind weniger schüchtern, können schneller mit anderen in Kontakt treten.
David Stuart: "Sie sind an einem Samstagabend in einer großen Stadt, nutzen eine der Sex-Apps. Das bringt Menschen schneller zu den Drogen, als sie ohne solch eine App gekommen wären. Weil es normal geworden ist. Oder aber jemand trinkt etwas in einer Bar, wird betrunken. Jemand anderes bietet einem dann eine Line oder einen Zug Mephedron an. Um in Stimmung zu kommen. Es muss nicht der Drogendealer sein oder man muss nicht ein Netzwerk von Leuten kennen, die drogenabhängig sind. Es geht darum, einfach damit irgendwie in Verbindung zu kommen."
Zurück bei Tony. Der Ton des Fernsehers ist auf stumm geschaltet, indirekte Beleuchtung lässt den Raum in einem kühlen Blau erstrahlen. Tony lehnt sich zurück in sein Sofa und berichtet: Gerade in der letzten Woche ist ein Bekannter durch eine Überdosis gestorben.
− Du kennst all die Risiken. Menschen sterben daran. Warum machst du es dennoch?
Tony: "Weil ich mir dessen sehr bewusst bin. Wenn Leute her kommen, lasse ich sie "G" nicht selbst dosieren. Ich mach das. Wenn Leute anfangen, leichtsinnig oder dumm damit zu hantieren oder wenn sie außer Kontrolle geraten, dann müssen sie gehen. Aber weißt du, manchmal ist es einfach nur Spaß."
−Wie oft findet das bei dir statt?
"Unterschiedlich. Manchmal zweimal die Woche, manchmal nur zweimal im Monat. Manchmal nur einmal in sechs Monaten. Die große Sache gerade ist, dass ich mir auch Spritzen setze. Leute wollen sich was reinknallen. Wenn du 17-Jährige siehst, die das machen, denkst du: Was macht der wohl als Nächstes?"
Selbstbewusst und risikobereit
"I am James, I am 33 and I live in Hackney."
James, 33 Jahre alt aus Hackney, ebenfalls im Osten von London:
"Heute war es ein sehr gemütlicher Tag, ich habe nichts gemacht. Ich habe es erst um 17 Uhr geschafft zu frühstücken."
James ist ein sportlicher Typ, der alleine in einer Loft-Wohnung lebt. Es ist Sonntagabend, heute früh ist er von einer Chemsex-Party gekommen. Hat GHB konsumiert. Die Droge macht selbstbewusst, risikobereit und wirkt stimulierend:
"Es gehört zum Standard. Wenn du Leute am Freitag- oder Samstagabend triffst, gerade in Ost-London, sind sie normalerweise high oder in Gruppen von verschiedenen Leuten. Das ist normal geworden."
Er arbeitet freischaffend, kann sich seine Tage selbst einteilen. Die Partys haben Auswirkungen auf seinen Job. "Ich merke, dass ich nicht mehr so zuverlässig bin wie vorher", sagt er. Wie die meisten Menschen in der Szene ist er äußerst reflektiert. Er weiß, dass er seinem Körper keinen Gefallen tut. Und da ist das Risiko der Ansteckung: 13 Prozent der homosexuellen Männer in London sind HIV-positiv. Großbritannien verzeichnet außerhalb der Hauptstadt eine Rate von gerade einmal vier Prozent. Zwei Drittel der Neuansteckungen finden bei 25- bis 44-jährigen Männern statt.
James: "Ich benutze Kondome, aber ich habe auch ungeschützten Sex. Das hängt von dem Typen und der Situation ab. Gerade wenn man so drauf ist, dass es einen nicht mehr interessiert. Natürlich möchte ich kein HIV bekommen. Ich meine, das mindert jetzt nichts, aber ich kenne viele Leute in London, die positiv sind. Sie sind in meinem Alter oder jünger. Die sind in Behandlung und führen auch glückliche Leben. Ich weiß nicht, warum ich immer dachte, man bekommt das nur, wenn man älter ist. Aber je mehr Leute ich treffe, desto mehr von diesen Messages bekomme ich vor dem Treffen. Sie sagen nicht, dass sie positiv sind. Sie sagen, dass ihre virale Belastung niedrig und nicht mehr nachweisbar ist. Diese Hinweise sind heute normal geworden."
Zweimal ist James nach Risikokontakten in eine staatliche NHS-Klinik gegangen, um sich das Medikament "PEP" verabreichen zu lassen. Die Einnahme innerhalb von 72 Stunden nach dem Sex verspricht eine hohe Wahrscheinlichkeit, sich nicht mit dem HI-Virus anzustecken.
Kampagnen sollen nicht stigmatisieren
Adam Bourne hat an der "London School of Hygiene & Tropical Medicine" eine große Studie zum Thema "Chemsex" veröffentlicht. Er betont, dass das Thema nur eine Minderheit in der Minderheit betreffe. Die Zahlen seien zwar erschreckend, deuteten aber nicht darauf hin, dass alle homosexuellen Menschen des Landes plötzlich Drogen nähmen und sich zu Sexpartys verabredeten. Gerade beim Thema HIV-Prävention sieht er aber ein großes Dilemma:
"Wie macht man etwas beängstigend genug, dass Leute es meiden wollen? So sehr, dass sie es nicht bekommen wollen, sich der Risiken allerdings bewusst sind? Aber gleichzeitig nicht so beängstigend, dass man die 110.000 HIV-positiven Menschen im Vereinigten Königreich stigmatisiert? Sie wollen ja nicht, dass Leute vor denen Angst haben. In den letzten 30 Jahren haben wir überall auf der Welt versucht herauszufinden, wie das gehen soll. Bis heute haben wir es nicht geschafft. Wir haben immer noch Kampagnen, die stigmatisieren. Ich habe keine Antwort darauf."
Warum London? Auch andere Mediziner in Millionen-Städten wie Kopenhagen, Berlin oder Paris melden immer mehr Ansteckungen mit Geschlechtskrankheiten. Auch im Zusammenhang mit den harten Drogen. Aber nirgends scheint es so große Probleme zu geben wie in London. Es ist die Schwulen-Hauptstadt. Viele Leute leben in London, die hier nicht aufgewachsen sind. Hier sind viele Männer, die von ihrer Familie, ihrem Netzwerk, weggezogen sind. Es ist eine Blase, in der man sich auspro-biert. Eine Stadt für Experimente. Und da ist noch etwas, sagt Tony, der hier schon seit Jahrzehnten lebt:
"In London fühlen wir uns alle manchmal einsam. London kann sehr einsam sein. Gerade in der schwulen Community. Wir haben alle irgendwie emotionale Probleme. Wodurch auch immer. Haben uns auf eine Weise verloren. Wir alle gehen durch diese Phasen, wenn es nicht so läuft wie es laufen soll. Wir verlieren den Überblick oder brauchen einfach Ablenkung. Deswegen sind die Drogen vielleicht weit verbreitet, weil sie den Leuten erlauben, solche Ängste nicht zu spüren."
Ein anderer Grund: Kaum eine Stadt in Europa verändert sich so rasend schnell wie London. Die Gentrifizierung ist überall. Vauxhall im Süden der Stadt war einst das Zentrum des schwulen Lebens in der Metropole. Heute machen immer mehr Clubs dicht, verlieren ihre 24-Stunden-Lizenzen. Und so ziehen die Menschen sich in ihre Wohnungen zurück. David Stuart von der NHS:
"Die Dinge ändern sich. Vor langer Zeit drehte sich die schwule Szene rund um Bars und Clubs. Die Städte verändern sich, die sexuelle Befreiung verändert sich. Die Homophobie in der Gesellschaft hat sich auch verändert. Das ist interessant. Aber London ist eine der großen Städte in Europa, die kein LGTB Community Center haben. Das könnte eine Ursache dafür sein, warum Chemsex hier eine so große Sache ist. Diesen Wandel sollten wir immer im Gedächtnis behalten, wenn wir über das öffentliche Gesundheitswesen sprechen."
Das Thema wird in den britischen Medien seit Monaten besprochen. Die steigenden Infektionsraten alarmieren. Experten sprechen von einer zweiten HIV-Welle seit den 1980er-Jahren. Und außerdem: Drogen und Sex steigern die Auflage.
Himmelblaue Tabletten - jeden Tag
Diskutiert wird auch über ein neues Medikament: PrEP. Was die Pille für Frauen ist, um nicht schwanger zu werden, ist dieses Medikament für Frauen und Männer, um nicht HIV-positiv zu werden.
Ob wie hier in der BBC oder anderswo: Dieser junge Mann wird oft zum Thema befragt. Alex Craddock, 24 Jahre alt:
"Ich nehme jeden Tag eine von diesen Tabletten. Sie sind ungefähr zwei Zentimeter lang und himmelblau. Hier wo ich lebe, in Süd-London, ist statistisch gesehen einer von zwölf schwulen Männern HIV-positiv und wenn Sie raus in die Szene gehen, ist es einer von sieben Männern. In der echten Welt ist es nicht immer einfach, Kondome zu benutzen."
In Großbritannien wird PrEP noch nicht vom staatlichen Gesundheitssystem bezahlt. Zugelassen ist es – aber die 400 Pfund im Monat kann sich kaum jemand leisten. In Frankreich wird PrEP seit einigen Monaten vom Gesundheitssystem übernommen. Alex hat mit einem anderen Aktivisten die Homepage Iwantprep-now.co.uk ins Leben gerufen.
"Es ist wirklich viel Arbeit, PrEP zu nehmen. Vor allem damit anzufangen. Sie müssen viel recherchieren, alles über das Medikament herausbekommen. Es hat mich Wochen gekostet, genug Wissen zu sammeln, um wirklich PrEP einnehmen zu können. Ich kaufe PrEP aus Indien, über eine Firma aus dem Südpazifik."
PrEP könnte der Schlüssel sein, um die HIV-Neuinfektionen im Zuge der Chemsex-Partys einzudämmen. Adam Bourne von der "London School of Hygiene & Tropical Medicine":
"PrEP ist klinisch gesehen effektiv. Aber es geht um den ökonomischen Nutzen. Das ist die Frage, die von der Regierung momentan gestellt wird. Ich persönlich finde, sie sollten es so schnell wie möglich auf den Markt bringen. Aber da gibt es noch viele Hürden. Gerade mit unserer momentanen wirtschaftlichen Situation, den Kürzungen im Gesundheitswesen."
Das Geschäft mit den Sex-Apps
Sind die Betreiber von Dating-Apps auch für die Situation mit verantwortlich? Neben "Grindr" gibt es auch zahlreiche andere Anbieter wie "Scruff" oder "Tinder". Sollten sie zum Beispiel Hinweise zur sexuellen Aufklärung an ihre Nutzer senden? Adam Bourne wünscht sich einen internationalen Dialog zum Thema, an dem dann auch die Konzerne teilnehmen sollen:
"Ich denke, einige der App-Betreiber sind sich bewusst, dass die Menschen auf ihre Plattformen gehen, um in erster Linie einen Sexpartner zu finden. Man geht dort nicht hin, um sich über Gesundheit zu informieren, über HIV-Tests oder so. Das sind kommerzielle Unternehmen, die Geld machen wollen und sehr genau wissen, was ihre Konsumenten suchen."
Der amerikanische Dating-App Riese "Grindr" hat seit einiger Zeit einen neuen Mehrheitseigner, das chinesische Unternehmen Kunlun Tech. Die Suche nach Sex über Apps unterliegt marktwirtschaftlichen Regeln. Es sind dieselben Regeln, die es sexuellen Minderheiten in Städten wie London so schwer machen, ihren neuen Platz zu finden. Das Chemsex-Phänomen ist dafür ein Paradebeispiel.
James: "Ich bereue es nicht Sex zu haben, ich bereue es nicht, wahllos Sex zu haben. Wenn ich etwas bereue, dann, wenn ich etwas Dummes gemacht habe. Ich muss mich mal wieder testen lassen. Ich hoffe, da ist nichts. Aber ich weiß es nicht."
Tony: "All die Liebe ist in den Drogen. Deswegen nenne ich es die Drogen-Liebe. Sie sagen alle so nette Dinge wie: 'Oh Gott, du bist die tollste Person auf der Welt. Wir hätten uns früher treffen sollen.' Am nächsten Morgen haben sie alles vergessen. Das hat keine Bedeutung. Ich antworte immer: 'Sag mir so was, wenn du nüchtern bist.' Was ich suche? Ich will zurück in eine Beziehung. Ich will mein altes Leben wieder haben."