China, Indien - Rote Karte für den Westen

Von Frank Sieren |
Wenn es um Rote Karten geht, dann geht es um Spielregeln. Wer darf wem, wann die rote Karte zeigen? Und das ist auch die entscheidende Frage im Verhältnis Chinas und Indiens zum Westen.
Immer häufiger fragen wir im Westen uns, warum China und Indien nicht nach unseren Regeln spielen, wenn es z. B. um den Umgang mit dem Iran, die Herausforderungen einer neuen Weltfinanzordnung oder die Klimaverhandlungen in Kopenhagen. China und Indien jedoch stellen eine andere Frage, wenn wir ihnen mal wieder als Spieler und Schiedsrichter in Personalunion die rote Karte zeigen. Wieso dürft ihr denn die globalen Spielregeln bestimmen, fragen sie. Und das ist eine Frage, die nicht weniger als einen epochalen Wandel einleitet.

Denn jahrhundertelang war klar, wer festgelegt, wo es lang geht. In Indien waren es seit dem 17. Jahrhundert die Briten. In China Portugiesen, Engländer, Franzosen, Deutsche. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts gelang es beiden Mächten, unabhängig von ihren Kolonialherren zu werden. Die globalen Spielregeln aber bestimmte für weitere Jahrzehnte unangefochten der Westen, allen voran die USA.

In den vergangenen zehn Jahren jedoch haben China und Indien dramatisch an Macht gewonnen. Zum ersten Mal seit 400 Jahren ist der Westen nicht mehr mächtig genug, die Rahmenbedingungen des Weltgeschehens zu bestimmen. Und die beiden Aufsteiger untermauern ihr Mitbestimmungsrecht auch noch mit denen von uns im Westen auf gestellten Spieregeln:

Während wir zu Recht mit großer Überzeugung aber auch manchmal mit zu großem Idealismus die Prinzipien der Demokratie in die Welt zu tragen versuchen, erinnern uns Chinesen und Inder daran, dass es am Ende dieser Entwicklung nur ein Ziel geben kann: One man, one vote. Jeder Mensch hat eine Stimme weltweit. Der Hinweis, dass China Demokratie erst einmal innerhalb seiner Grenzen umsetzen solle, nützt uns wenig, so berechtigt er auch sein mag. Die chinesische Führung hat inzwischen genügend Druckmittel, ihre globalen Interessen durchzusetzen. China ist der größte Gläubiger der USA. Und die westlichen Unternehmen, die um die besten Plätze im chinesischen Markt konkurrieren, zwingen ihre Politiker, Konzessionen zu machen.

Es wird also Zeit für uns, den Tatsachen ins Auge zu schauen: In einem zukünftigen Weltparlament kommen die Europäer nur knapp über die Fünfprozenthürde. Und die US-Amerikaner bleiben mit ihren gut 300 Millionen Menschen sogar knapp darunter. China hätte dann mit 1,3 Milliarden Menschen die einfache Mehrheit im Weltparlament; Asien hätte mit gut 3,8 Milliarden Menschen die absolute Mehrheit.

Unsere Lage ähnelt der des deutschen Adels an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Adligen damals konnten sich auch nicht richtig vorstellen, dass gemeine Bürger mit Fabriken oder Kaufhäusern reich werden und sogar zu Spitzenpolitikern aufsteigen konnten. Manche von ihnen brauchten das gesamte Jahrhundert, um sich daran zu gewöhnen, dass sich nur noch die Illustrierte Gala für sie interessiert.

Am Ende ihres Abstiegs mussten sie sich eingestehen, dass der Kampf gegen solche Entwicklungen aussichtslos ist. Was früher auf nationaler Ebene passierte, vollzieht sich heute global. Heute fühlen wir uns als der Adel der Welt und können uns nicht vorstellen, dass Inder und Chinesen mit uns auf gleicher Augenhöhe reden. Doch je früher wir uns darauf einstellen, dass sich unsere Position relativiert, desto besser für uns und die Lösung der globalen Probleme. Sonst bekommen wir eines Tages die rote Karte.

Frank Sieren, Jahrgang 1968, studierte Politikwissenschaft und arbeitet als Journalist, Dokumentarfilmer, Buchautor und Korrespondent der "Zeit". Seit über eineinhalb Jahrzehnten lebt er in Peking. Er gilt als einer der führenden deutschen Chinakenner. 2010 erschien sein Buch "Der China Schock" (Ullstein Verlag).
Frank Sieren
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