"China ist reich an Geschichten"

Rolf Giesen im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Der Animationsfilm-Spezialist Rolf Giesen hat im Nordosten Chinas ein Medien-Museum mit aufgebaut. Weil seine Ideen in Berlin nicht mehr gefragt gewesen seien, sei er ins Exil gegangen, um in der alten Filmstadt Changchun den kulturellen Austausch zu fördern.
Liane von Billerbeck: Changchun liegt im Nordosten Chinas und ist eine dieser Riesenstädte, von denen wir hierzulande fast alle noch nie gehört haben, und das, obwohl die Stadt sieben Millionen Einwohner hat. Genau dorthin hat es Rolf Giesen gezogen, um sein ureigenes Museum aufzubauen: Das Animation, Comics & Games Museum Rolf Giesen. Er selbst ist der Experte für Animationsfilme in Deutschland.

Seit einiger Zeit lebt und lehrt Rolf Giesen aber in China. Glücklicherweise ist er gerade hier und hat sich Zeit für einen Besuch bei uns genommen. Willkommen erst mal im "Radiofeuilleton"!

Rolf Giesen: Ni hao, das ist Chinesisch und heißt guten Tag. Und damit hören meine Chinesisch-Kenntnisse fast schon auf.

von Billerbeck: Ich wollte gerade fragen: Haben Sie denn nun schon Chinesisch gelernt?

Giesen: Mei you, da sagt man mei you: Geht nicht, kann ich nicht, bin ich viel zu alt für.

von Billerbeck: Animation, Comics und Games, das Programm steckt ja schon im Namen. Wie müssen wir uns das vorstellen, was gibt es da zu sehen in Ihrem Museum?

Giesen: Nun, meine chinesischen Partner haben gesagt, es solle hauptsächlich um Technologie gehen. Technologie, die hilft, auch sehr viel Geld zu verdienen, denn Animation und Comics und Games sind in China ein Wirtschaftsfaktor. Sie sind unter anderem verbunden mit der Spielzeugindustrie. Und die chinesische Spielzeugindustrie ist gewaltig, gewaltiges Volumen. Aber ich habe gesagt: China ist auch Balance. Asien ist Balance, nicht nur Wachstum. Ich glaube, in unserer heutigen Welt geht es darum, das Gleichgewicht wieder zu finden. Und das müssen wir auch zwischen Technologie, Kunst und Inhalt tun. Und so habe ich mehr auf Kunst und Inhalte fokussiert.

Ich habe die Chinesen an das hohe alte Schattenspiel erinnert, das eine der Grundlagen auch der heutigen Filmanimation ist, dann daran erinnert, dass das Zootrop, also ein kreisrundes, rotierendes Gerät, durch das man Bilder laufen lassen kann, dass das in China erfunden worden ist, dass sehr viel aus China kommt, und dass man sich auch an die eigene Kultur erinnern muss. Ich benutze also Animation und die modernen Games und die Comics – übrigens auch Comics vor 300 Jahren in China aufgekommen –, dieses benutze ich, um auch Chinesen wieder mit ihren Ursprüngen vertraut zu machen, sie herauszufordern, etwas für unsere Welt zu tun mithilfe der neuen, digitalen Medien.

von Billerbeck: Musste da ein Deutscher kommen, um den Chinesen zu sagen: Guckt doch mal, was ihr da für eine tolle Kultur habt, für eine tolle Geschichte, auch in diesem Bereich?

Giesen: Manchmal wünsche ich mir, ein Chinese käme nach Deutschland und würde uns auch ein bisschen daran erinnern, aber ein wenig ist es vielleicht so, denn auch die Chinesen scheinen von ihrer Kultur abgetrennt zu sein. Es ist eine sehr langsame Kultur, 5000 Jahre alt, und sie bewegt sich heute rasant in einem unerhörten Tempo. Dieses Tempo ist zu schnell, es ist für die menschliche Physis zu schnell. Und wir leben auf einem Kontinent, wir sind ja nicht nur transatlantisch, nicht? Berlin ist an einem Ende und Peking ist am anderen Ende. Und wir teilen uns den Kontinent und müssen auch zusammenleben und können einen kulturellen Austausch zu gegenseitigem Nutzen betreiben.

von Billerbeck: Warum haben Sie nun das Museum ausgerechnet in dieser Stadt eröffnet, Changchun, von der ich zugegeben vorher noch nie gehört hatte. Was ist das für eine Stadt? Was hat Sie dahin gezogen?

Giesen: Gezogen erst einmal nichts. In China lässt man es auf sich zukommen. Man ist da, wenn man ein Experte ist, und irgendwann entwickelt sich etwas, und so hat es sich in Changchun entwickelt, eine Stadt, in der sehr viele Deutsche leben, denn da sind auch Teile der chinesischen Automobilindustrie verankert – man hat sogar deutsche Lokale –, und gleichzeitig ist es aber auch eine alte Filmstadt. Dort sind die ersten Spielfilme der Volksrepublik entstanden, also Autos und Film, und es ist eines der größten Medieninstitute des Landes dort, nämlich das Jilin-Animationsinstitut, 9000 Studenten, also ein sehr großer Komplex.

Wir müssen bedenken, dass wir in ganz Deutschland vielleicht 400 Studenten der Animation haben, und dass die Meisten, die hören hier Animation, das ist nur was für Kinder. Also wir haben es mit sehr modernen digitalen Mitteln zu tun in China, und das zu studieren, auch dabei zu sein, also nicht nur dazu beizutragen, dass es sich entwickelt, sondern allein das Erlebnis ist schon etwas, und in meinem Alter – ich hätte mir nicht vorgestellt, ich gehe auf die 60 zu, dass ich mir das zumuten würde, warum nicht? Man wird wieder jung dabei, es ist sehr schön!

von Billerbeck: Wir werden 90, da kann man auch länger arbeiten, Herr Giesen.

Giesen: Das hört man jetzt ja in Deutschland, und wenn ich nun aus China zurückkomme nach Europa, bin ich immer erstaunt, was ich dann in den Zeitungen lese.

von Billerbeck: Nun stellt man sich das ja nicht so einfach vor, da einfach ein Museum – einfach sage ich jetzt doppelt – in China zu eröffnen. Sie haben gesagt, Sie waren der Experte – das wissen wir, wir kennen Sie als den Animationsfilmexperten hierzulande –, trotzdem kommt man ja nicht so mir nichts, dir nichts zu einer Museumseröffnung, das dann auch noch den eigenen Namen trägt. Wie war das? Wie ging das?

Giesen: Tja, es ging stufenweise: Zuerst mit Besuchen in China, mit Vorträgen, das hat vor sieben Jahren angefangen. Dann habe ich begonnen, dort zu unterrichten in Peking, ich war der Einzige, der also Inhalte vermitteln wollte, der also nicht sagt, wir studieren Technologie, sondern wir haben Geschichten zu erzählen, wir müssen Menschen erreichen, wir müssen etwas mitteilen. Und dann bin ich auf weiteren Konferenzen gewesen. Wir haben die ersten sino-deutschen Koproduktionen initiiert. Wir haben immerhin in diesem Jahr in chinesischen Kinos drei große Animationsspielfilme gehabt, das ist noch nicht vorgekommen. Ich war an Zweien beteiligt. Und auf einmal kam dieses Angebot, sie haben gehört, ich sei in Berlin ...

von Billerbeck: ... der Experte?

Giesen: ... der Experte, und auch mal in einem Museum tätig gewesen, und man hat gehört, dass ich mit meinen Vorstellungen in Berlin leider nicht durchkam und das, was ich in 20 Jahren aufgebaut habe, Berlin nicht mehr haben wollte. Also bin ich ins Exil gegangen, ...

von Billerbeck: Und da haben Sie sich gesagt, go ...

Giesen: ... und dieses Exil ist mir gut bekommen.

von Billerbeck: Go East!

Giesen: Go East! Ist nicht mehr Go West, es ist Go East. Ganz sicher.

von Billerbeck: Sie haben es schon geschildert, dass die Animation in vielerlei Form in China eine lange Tradition hat. Die ersten Comics gab es schon im 18. Jahrhundert. Wie kommt es aber dann, dass sich im Gegensatz zu Japan und bestimmten westlichen Ländern diese Branche so langsam entwickelt hat?

Giesen: Weil sie nur äußerlich orientiert war, nur aufs Formale, auf künstlerische Elemente, nicht so sehr auf Inhalte. Man hat natürlich in China nicht das westliche Geschichtenerzählen. Ich kann eine Geschichte nicht so ausdrücken und formulieren, wie wir das tun. Man denkt in Symbolen. Wenn ich zum Beispiel eine bestimmte Blume zeige oder ein Tier sehe, dann hat das für die Chinesen eine ganz bestimmte Bedeutung, sie wissen, was damit gemeint ist. Wir wissen es nicht. Und so glaube ich, dass wir zu einer Balance kommen können, dass unsere Art, Geschichten zu erzählen, sehr hilfreich sein kann in China, um chinesische Inhalte zu entdecken, denn China ist reich an Geschichten.

Es geht so ungeheuer viel vor in diesem Land mit den Menschen – ich hatte gesagt, im Automobilverkehr, auf dem Land –, es ist also ungeheuer, ungeheure Eindrücke, dass jeder Autor sich nur freuen würde, daraus zu schöpfen, und das mit formalästhetischen Mitteln, mit asiatischen Mitteln zu verbinden, das ist, glaube ich, eine gute Symbiose und in hohem Maße interkulturell. Und so sind wir also interkulturelle Botschafter, wir, die wir im Museum arbeiten. Andere haben es in Peking getan, die große deutsche Ausstellung "Kunst der Aufklärung" ist dort. Ich mache es eben im Animationsfilm. Animation ist sehr alt, allerdings mit den digitalen Mitteln auch sehr, sehr modern, und es erreicht ungeheure Massen dort.

von Billerbeck: China, das ist ja für die deutsche Wirtschaft ein riesiger Absatzmarkt, ein Markt, auf den jeder gerne möchte, um dort Geld zu verdienen. Je mehr sich das Land dem Westen öffnet, welche Zukunft hat den die deutsche Animationskunst dort? Spielt die überhaupt eine Rolle?

Giesen: Hm, ja, ich muss sagen, durch unsere Kärrnerarbeit sind gute Grundlagen geschaffen. Natürlich sind die Amerikaner führend, natürlich ist "Kung Fu Panda" und sind es "Transformers" und solche Marken, "Avatar", sind dort angesagt, aber wir haben sehr viel getan. Und ich glaube, man kann darauf aufbauen. Leider Gottes finden wir bei deutschen Institutionen oft wenig Gehör, und wir finden auch in Deutschland wenig Gehör. Manchmal muss man sich ja entschuldigen, wenn man in China arbeitet. Das ist, gelinde gesagt, Unsinn. Man macht einem Vorwürfe: Du gehst da hin, was machst du da? Ich kann nur probieren, die Menschen zu überzeugen, dass ich da sehr frei arbeiten kann, sehr kritisch arbeite in meinem Feld, ...

von Billerbeck: Keine Probleme?

Giesen: Ja, ich habe die Qualität der chinesischen Animation sehr gerügt und ich hoffe, dass ich gerade dadurch, auch durch meine Kritik, durch meine konstruktive Kritik, etwas bewegen kann. Das heißt, die Grundlagen sind kulturell eigentlich sehr gut, nicht nur wirtschaftlich. Umgekehrt können wir etwas von China lernen, wir können etwas von Asien lernen. Ich hoffe, wir lernen eine neue Lebenskultur, wir lernen, dass wir die Ressourcen der Erde nicht mehr so plündern können, denn dieses Wachstum, was wir an den Tag gelegt haben, wenn wir das auf China projizieren, dann ist das Ende der Welt programmiert. Wir müssen einen anderen Lebensstil entwickeln, und das müssen wir gemeinsam auf diesem Kontinent lernen, und dazu brauchen wir natürlich interkulturelle Zusammenarbeit.

von Billerbeck: Das war ein Plädoyer dafür, und bei uns zu Besuch war Rolf Giesen. Alles Gute für Sie und Ihr Museum, das "Animation, Comics & Games Museum", das Ihren Namen trägt, in Changchun. Und ich vermute und hoffe, wir werden wieder von Ihnen hören!

Giesen: Che che, das heißt Danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.