Mächtigster Führer seit Mao Zedong?
Ab Mittwoch kommt die Kommunistische Partei Chinas zu ihrem 19. Parteitag zusammen. Partei- und Staatschef Xi Jinping steht im Mittelpunkt. Er lässt seine zweite Amtszeit absegnen und kann erstmals den engsten Machtzirkel Chinas nach eigenen Vorlieben besetzen.
Sie sind gekommen, um zu staunen. Busladungen von Menschen drängeln sich auf das alte Messegelände in Peking. Parteikader aus den Städten und Provinzen. Soldaten und Polizisten in Uniform. Komplette Arbeitereinheiten, so genannte Danweis.
Eine Großausstellung feiert in Peking die erste Amtszeit von Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping. "Fünf Jahre große Erfolge und Errungenschaften", so der Titel. Pünktlich vor dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas.
Die Ausstellung ist ganz auf Chinas obersten Führer zugeschnitten. Xi Jinping will sich auf dem Parteitag für weitere fünf Jahre als Generalsekretär der Kommunistischen Partei bestätigen lassen. Wohlstand für alle bis 2020, so das offizielle Ziel seiner Politik, erzählt die Ausstellungsführerin den Besuchern.
Xi hat sich vor einem Jahr den Titel "Kern der Partei" verleihen lassen. Und um diesen Kern sollen sich jetzt alle versammeln. Auf einem großen, roten Transparent steht in gelben Schriftzeichen der Appell: "Schließen wir uns mit Xi Jinping als Kern der Führung zusammen, um die große Sache des Sozialismus chinesischer Prägung voran zu bringen".
Xi Jinping als der Vater des Erfolges?
Besucher Duang Jianzhong zeigt sich davon begeistert. Seit zehn Jahren ist der 32-Jährige bereits Mitglied der Kommunistischen Partei.
"Wir haben in den vergangenen fünf Jahren Herausragendes geleistet. Vieles hat sich in China rasant entwickelt, vor allem in Forschung und Hochtechnologie. Diese Ausstellung zeigt, was wir alles erreicht haben. Sie schafft ein Bild fürs große Ganze und für die neue, nationale Stärke Chinas. Präsident Xi hat viel Charisma und einen starken Willen. Er ist weise und packt sehr entschieden die großen Probleme an."
Die Botschaft hier ist eindeutig: Xi Jinping ist der Vater des Erfolges. Und kaum ein Ort eignet sich so gut, Erfolge zu präsentieren, wie das alte Messegelände in Peking. Das Hauptgebäude wirkt wie eine Kathedrale. Erbaut 1954 im Stil des stalinistischen Klassizismus.
Rund 3200 Exponate sollen Chinas rasanten Fortschritt der letzten Jahre zeigen: in der Hochtechnologie, bei den Hochgeschwindigkeitszügen, in der Raum- und Luftfahrtfahrt-Technik, bei der Digitalisierung der Gesellschaft, im Umbau und Ausbau des Militärs. Für die 31-jährige Besucherin Gao Qin ist China auf dem richtigen Weg.
"Die größte Errungenschaft der vergangenen fünf Jahre ist meiner Ansicht nach, dass das gesellschaftliche Klima besser geworden ist. Vor allem durch die erfolgreiche Anti-Korruptions-Kampagne. Und die wirtschaftliche Initiative 'Neue Seidenstraße' ist für mich der größte Leuchtpunkt. Generalsekretär Xi ist ein erfolgreicher Führer."
Auf einer Großleinwand läuft eine Endlosschleife über den Präsidenten: Szenen aus seinen ersten fünf Jahren. Er besucht die einfachen Menschen auf dem Land oder schüttelt Hände von Staatschefs. Hält wichtige internationale Reden.
Xi Jinping ist kein charismatischer Führer
Keiner würde hier ein kritisches Wort über Chinas Staats-, Partei- und Armeechef verlieren. Stattdessen in zehn Ausstellungshallen Lobeshymnen auf Xi Jinping – und immer wieder großformatige Fotos. Das alles passe ins Bild, sagt der kritische Politikwissenschaftler der Chinese University in Hongkong, Willy Lam.
"Verglichen mit Mao Zedong und dem Architekten der Reform-Ära, Deng Xiaoping, ist Xi Jinping kein natürlich-charismatischer Führer. Das zeigt sich auch daran, dass die Propaganda-Maschinerie der Partei mit allen Mitteln versucht, einen Personenkult um Xi herum zu schaffen. Wir sehen ihn ununterbrochen in den Fernseh-Nachrichten, in den Zeitungen, im Internet. Sein so genanntes Charisma ist ein Produkt der modernen Propaganda, die die Massenpsychologie und die neuen Medien sehr effektiv nutzt."
Mit dem 19. Parteitag beginnt die zweite Amtszeit von Chinas Staatspräsident Xi Jinping. Der Parteitag ist auch deshalb so wichtig, weil er das politische Machtgefüge in Peking völlig neu ordnet. Parteichef Xi kann erstmals den engsten Machtzirkel der Kommunistischen Partei Chinas nach eigenen Vorlieben besetzen. Die oberste Führungsriege wird dabei fast komplett ausgetauscht.
Zugeschnitten auf den starken Mann Xi, sagt der Hongkonger Politologe Willy Lam.
"Beobachter nennen den 19. Parteitag die 'Krönung des Xi Jinping als lebenden Kaiser'. In den vergangenen fünf Jahren war er extrem erfolgreich darin, die Xi Jinping-Fraktion innerhalb der politischen und militärischen Führung auszubauen. Und er wird diese Chance jetzt nutzen, die sich in China mit der Neuordnung der Macht nur alle fünf Jahre ergibt. Er wird noch mehr seiner Schützlinge und Klone in die wichtigsten politischen Gremien holen."
Xi besetzt Spitzenpositionen mit Vertrauten
Im Ständigen Ausschuss des Politbüros sitzen die sieben mächtigsten Politiker Chinas. Aus Altersgründen werden vermutlich fünf von ihnen ausgetauscht. Staatspräsident Xi Jinping wird danach eine solide Mehrheit im wichtigsten politischen Gremium des Landes haben.
In vielen der 31 Provinzen und Stadtstaaten hat Xi die Spitzenpositionen bereits mit eigenen Vertrauten besetzt. Rund zwei Drittel der Parteichefs und Gouverneure in den Provinzen hat er in seiner ersten Amtszeit austauschen lassen, so viel wie keiner vor ihm.
Seit seinem Amtsantritt vor fünf Jahren hat Xi Jinping viele parteiinterne Gegner aus dem Weg geschafft. In der Ausstellung stehen auf großen Schautafeln die Zahlen zur Anti-Korruptions-Kampagne: 1,4 Millionen Fälle parteiinterner Verfahren und Strafen.
"Wir müssen die Partei strikt regieren. Keiner steht über der Partei-Disziplin", heißt es in einem Propaganda-Video zur Anti-Korruptions-Kampagne. Es wird gezeigt, wie Parteichef Xi Jinping – in dem Animations-Clip anbiedernd auch Onkel Xi genannt – diversen Tigern mit Menschengesicht mit einem Hammer auf den Kopf haut.
Denn es sind nicht nur die kleinen Funktionäre der Partei, die der Anti-Korruptions-Kampagne zum Opfer fielen. Es sind auch die Großen, die so genannten Tiger. Weit mehr als 200 Top-Kader ab Ministerrang und Vize-Provinzchef sind abgesetzt worden und im Gefängnis gelandet. Eine so rigorose Säuberungspolitik schafft auch Feinde, sagt der kritische Historiker und politische Kommentator Zhang Lifan aus Peking.
"Seit Xi Jinping im Amt ist, trägt er unter dem Banner der Anti-Korruptions-Kampagne einen Machtkampf aus. Er hat damit selektiv viele politische Rivalen gestürzt. Aber er hat sich auch Feinde gemacht, in fast allen Fraktionen der Partei. Besonders auf der mittleren und unteren Parteiebene werden seine Anweisungen nicht immer effektiv ausgeführt. Teile der chinesischen Bürokratie üben eine Art weichen Boykott aus. Das ist sehr offensichtlich."
Anti-Korruptions-Kampagne ist parteiinterner Machtkampf
Auf dem 19. Parteitag wird die Anti-Korruptions-Kampagne als notwendige Säuberung der Partei verkauft werden. Als großer Erfolg der letzten Jahre. Ob aber die Bekämpfung der politischen Rivalen und die zunehmende Konzentration der Macht unter Xi Jinping ein Zeichen von Stärke oder Schwäche ist, da sind sich Experten nicht immer einig.
Der kritische Historiker Zhang Lifan sieht Parteichef Xi, trotz aller Machtfülle, in einer schwierigen Position.
"Ihm fehlt es an Vertrauen. Je weniger Sicherheit ein Politiker in dieser hohen Position verspürt, desto mehr Macht will er auf sich konzentrieren. Xi Jinping hat dutzende Kommissions- und andere Vorsitze übernommen. Wir beobachten den Transfer der Macht vom Politbüro hin zu Xi Jinping. Er will die Loyalität des Militärs, indem er dort Reformen durchsetzt und Generäle austauscht. Er verfolgt rigoros abweichende Meinungen. Das alles zeigt, dass er kein Vertrauen in seine eigene Stellung hat. Je machtvoller und höher seine Position, desto mehr Gefahren lauern auch."
Für Xi Jinping geht es beim 19. Parteitag auch darum, sich ein Umfeld zu schaffen, dass ihm in seiner zweiten Amtszeit so loyal wie möglich den Rücken stärkt. Das meiste, was personell und inhaltlich auf dem 19. Parteitag beschlossen werden wird, ist bereits in den vergangenen Wochen und Monaten von der Führung der Kommunistischen Partei vereinbart worden. Wie in China üblich: informell und streng geheim.
Partei-Eliten in Badehosen
250 Kilometer östlich von Peking: am Küstenort Beidaihe hat der 19. Parteitag schon Anfang August begonnen. Beobachter merken gerne an, dass Chinas Partei-Eliten hier in Badehosen über die Zukunft der Volksrepublik entscheiden. Immer im Sommer kommen die Führer der Kommunistischen Partei zu informellen Treffen in den bekannten Küstenort Beidaihe. Seit Mao haben die Treffen Tradition, sagt der Historiker Zhang Lifan.
"Da kommt die ganze Spitze zusammen, alle Fraktionen. Da kann alles passieren. Funktionäre werden gestürzt, andere steigen auf. Alles ist möglich."
Am Strand von Beidaihe ist Chinas Revolutionsführer Mao Zedong noch allgegenwärtig. Große Schautafeln zeigen den Staatsgründer bei seinen Besuchen in den 50er- und 60er-Jahren. Auch dieses Jahr hieß es für die politische Führung wieder: raus aus der schwülen Hitze der Hauptstadt Peking, rein in die Sommerfrische an der Nordostküste Chinas.
Etwas abseits gibt es in Beidaihe den Weststrand, einen streng abgeschirmten Küstenabschnitt nur für die chinesische Führung und ihre Familien. Ihre herrschaftlichen Villen liegen zwischen dichten Zedern- und Pinienwäldern am Fuße des Lianfeng-Berges. Mit Blick aufs Meer. Ein hermetisch abgeriegelter Urlaubsort im Urlaubsort, umgeben von einer großen Mauer.
Der 19. Parteitag wurde hier in Beidaihe im Detail vorbereitet. Nach alter Tradition im autoritären Ein-Parteien-Staat China regelt die politische Führung schon vorher und informell die wichtigen inhaltlichen und personellen Entscheidungen. Und das, bevor sie die Pläne von den Parteigremien absegnen lässt.
Wang Shuo ist 35 Jahre alt – und besitzt drei Restaurants und drei Hotels im Küstenort Beidaihe. In seinem neuesten Restaurant verkauft er spanische Paella, das kommt bei vielen chinesischen Touristen gut an.
Geschäftsleute wollen Sicherheit
Wang ist vor 13 Jahren aus Nordchina nach Beidaihe gekommen. Der Klang des berühmten Seebades hat ihn angezogen. Ein Klang, der in China auch etwas von großer Politik hat.
"Beidaihe wurde schon mal 'die Sommer-Hauptstadt Chinas' genannt. Die Führer kommen ja offiziell zum Entspannen, nicht für die Arbeit. Aber es ist natürlich eine tolle Werbung für Beidaihe als Badeort. Weil die Führer unsere Umgebung mögen, darauf sind wir stolz! Aber wir wollen natürlich, dass auch die normalen Menschen kommen."
Geschäftsmann Wang ist einer, wie ihn sich die Kommunistische Partei Chinas wünscht. Ehrgeizig, erfolgreich, folgsam. Einer, der optimistisch auf den 19. Parteitag in Peking blickt. Und sich vor allem wirtschaftliche Sicherheit und Perspektive wünscht.
"Ich sehe, dass Beidaihe und die ganze Nation sich gut entwickeln. In China gibt es heute weniger Korruption, das ist die größte Veränderung der letzten Jahre. Die Kontrollen der Regierung sind deutlich schärfer geworden. Kein Problem für kleine Geschäftsleute wie mich, solange wir unsere Arbeit ehrlich machen. Stabile Verhältnisse sind die notwendige Voraussetzung, um die Lebensbedingungen für alle zu verbessern. Und das wünschen wir uns von der Partei."
Entlang der Holzzäune am Strand von Beidaihe, nicht weit weg von Wangs Restaurant, sind Parolen in roten Schriftzeichen zu sehen. "Begrüßt mit Freuden den 19. Parteitag", heißt es da.
Null Toleranz für abweichende Meinungen
Aber viel Veränderung wird der Parteitag für die Menschen nicht bringen. Nichts ist so wichtig wie die Stabilität der Kommunistischen Partei Chinas. Störgeräusche, die die Allmacht der Ein-Parteien-Herrschaft in Frage stellen oder gar auf eine politische Öffnung drängen, sind in China auf keinen Fall gewünscht, meint der Hongkonger Politologe Willy Lam.
"Verglichen mit seinen drei Vorgängern Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Hu Jintao gibt es unter Xi am wenigsten Toleranz für abweichende Meinungen. Deshalb hat er sich auch einen Polizei-Staatsapparat geschaffen. Er kontrolliert strikt die Medien, das Internet und die sozialen Medien. Ob Intellektuelle, Menschenrechtsanwälte, Universitätsprofessoren oder Akteure der Zivilgesellschaft: Jeder, der den universellen Werten zugeneigt ist, wird bekämpft. Sie verlieren ihre Jobs oder wandern gleich ins Gefängnis.
Für die Intellektuellen in China, die nicht mit Xi Jinpings extrem orthodoxer Form des Sozialismus übereinstimmen, ist das eine große Herausforderung."
Zu Beginn der ersten Amtszeit von Xi Jinping haben viele Beobachter vermutet: Chinas Präsident werde die ersten fünf Jahre dazu nutzen, seine Macht zu festigen und die Partei wieder auf Linie zu bringen. Danach sei er aus einer gefestigten Machtposition heraus in der Lage, wirtschaftliche und vielleicht auch vorsichtige politische Reformen anzupacken.
Mittlerweile glaubt das kaum noch einer. Zu ideologisch, zu repressiv war die Politik der ersten fünf Jahre.
"Nach dem 19. Parteitag wird Xi Jinping seine Macht weiter gefestigt haben: als Kern der Partei, als unangefochtener höchster Führer und vielleicht als der mächtigste chinesische Führer seit Mao Zedong."
Xi Jinping wird sich auf dem Parteitag nicht nur für weitere fünf Jahre als Parteichef und Führer der Volksrepublik bestätigen lassen. Er hat Größeres vor: Seine theoretischen Beiträge zur Fortentwicklung des Sozialismus sollen möglichst in die Parteistatuten als richtungsweisende Theorien mit aufgenommen werden. Unter Nennung seines Namens.
Diese Ehre wurde zu Amtszeiten bislang nur Staatsgründer Mao Zedong zuteil. Aber Xi Jinping möchte auf eine Stufe mit Mao – und der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas wird ihm dabei helfen.