Lagerhaft fürs Beten
12:50 Minuten
Islam und Christentum sind in China offiziell erlaubt. Doch der Alltag sieht anders aus: Pfarrer werden verhaftet, muslimischen Uiguren soll der Glaube in Umerziehungslagern ausgetrieben werden. Aber Chinas Religionspolitik ist nicht einheitlich.
Kirsten Dietrich: Der chinesische Staat ist ganz offiziell atheistisch, weil kommunistisch. Er erkennt aber nach seiner Zählung fünf Religionen an: den Daoismus, den Buddhismus, katholisches und protestantisches Christentum und den Islam. Trotzdem sieht die Alltagsrealität je nach Religion sehr verschieden aus. Buddhisten und Anhänger des Daoismus haben wenig Probleme, bei den christlichen Kirchen und den Muslimen greift der Staat dagegen tief ins religiöse Leben ein: Er verbietet Islamunterricht in Moscheen, er verhaftet Geistliche, er erkennt Bischöfe nicht an. Das führt dazu, dass Islam und Christentum ausweichen – ins Private, ins Verborgene, in den Untergrund. Was das tatsächlich heißt, darüber möchte ich jetzt mit Axel Dorloff sprechen. Er berichtet als Korrespondent regelmäßig für Deutschlandfunk Kultur aus China, und er hat sich immer wieder mit den verborgenen Gläubigen in China beschäftigt. Einen schönen Gruß nach Peking, Herr Dorloff!
Axel Dorloff: Ja hallo, guten Tag!
Gemeinden nur für Eingeweihte
Dietrich: Fangen wir mal ganz praktisch an: Wie findet man eine Gemeinde im Untergrund, wie geheim sind diese Gemeinden?
Dorloff: Das ist unterschiedlich. Manche sind sehr geheim, da finden die Gottesdienste wirklich irgendwo in Wohnungen zu Hause statt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, das wird auch nirgendwo geschrieben, das steht nirgendwo im Internet. Daher auch die Bezeichnung "Familienkirche", weil die Gottesdienste zu Hause stattfinden. Manche sind etwas offener zugänglich, da gibt es auch bestimmte Chatgruppen, Facebookgruppen, über die man diese Kirchen findet, weil diese sogenannten Untergrundkirchen natürlich auch ein Stück weit von der chinesischen Regierung toleriert werden. Wenn man will, findet man sie schon.
Staatliche Aufpasser im Gottesdienst
Dietrich: Sie haben eine evangelische Untergrundgemeinde gefunden und besucht. Wie ist das Leben in einer solchen Gemeinde?
Dorloff: Bei der Gemeinde von Pastor Wang Yi, bei dem waren wir, das ist ein evangelischer Prediger in Chengdu, einer Stadt im Südwesten von China, da war es so, dass der Gottesdienst in einem schmucklosen Hochhaus stattfand, also ein Bürohaus in der 15-Millionen-Metropole Chengdu in der Provinz Sichuan. Da hatte die Gemeinde einen Raum, den sie regelmäßig mieten, wo sie ihre Gottesdienste abhalten.
Davon wissen die Behörden auch, es sind auch immer Aufpasser da, die sitzen dann manchmal sogar mit im Gottesdienst, hören zu, dass da nicht zu politisch gepredigt wird. Manchmal setzen sie sich auch draußen auf den Flur und halten quasi einen Höflichkeitsabstand. Und in der Gemeinde verlief der typische Gottesdienst an einem Sonntag so, dass danach noch Mittagessen war, wo jeder was mitgebracht hat. Das wurde auf einem langen Tisch aufgebaut, und dann wurde gegessen – also so, wie man das vielleicht auch aus anderen Gemeinden kennt.
Der Tag, an dem der Glaube zum Verhängnis wird
Dietrich: Was motiviert denn die Gemeindemitglieder, was motiviert den Prediger, diese Art von Gottesdienst zu machen? Pfarrer Wang Yi ist ja inzwischen auch verhaftet worden.
Dorloff: Ja, aber es sind überzeugte Christen, und Wang Yi hat damals bei uns im Interview schon gesagt, er rechnet mit dem Tag, an dem die Staatsmacht kommt, an dem sein Glaube ihm zum Verhängnis werden kann oder zumindest die Freiheit nehmen kann. Aber er geht dieses Risiko ein, weil er halt gläubiger Christ ist, weil er das Wort verkünden will wie viele andere Christen auch. Und das hat er sehr konsequent getan, er hat auch immer sehr politisch gepredigt, und das wurde ihm im Endeffekt zum Verhängnis. Seine Frau ist mittlerweile aus dem Gefängnis entlassen worden, aber er ist immer noch in Haft.
Dietrich: Gibt es da einen Kurswechsel im Umgang mit solchen Untergrund- oder Familienkirchen?
Dorloff: Man kann vielleicht von einem grundsätzlichen Kurswechsel reden. In China ist ein überarbeitetes Religionsgesetz in Kraft getreten, das sieht vor allem stärkere Kontrollen vor – also stärkere Kontrollen von Geistlichen, von Gemeinden, von religiösen Materialien aus dem Ausland, die sich natürlich in diesen Untergrundkirchen auch immer wieder finden, von religiösen Internetseiten, religiöser Jugendarbeit, auch die stärkere Kontrolle der wirtschaftlichen Situation dieser Gemeinden.
Staatliches Misstrauen gegenüber Religionen wächst
Das ist also ein deutlich strengeres Gesetz mit der Logik: China muss sich vor der Unterwanderung durch Religionen schützen, daher darf Religion nur in einem vom Staat sehr streng vorgegebenen und kontrollierten Rahmen stattfinden. Und diese religiöse Diskriminierung beobachten wir in China auch am Beispiel der Christen. Also Repressalien: Kameras, die in Gemeinderäumen installiert werden, damit die lokalen Behörden die Gläubigen beobachten können, auch sowas gab es in der Gemeinde von Wang Yi. Kreuze wurden in manchen Provinzen schon von Kirchendächern gerissen, Bischöfe von Untergrundkirchen sind verschwunden, bis heute gibt es welche, von denen man nicht weiß, wo sie sind. Und diese Liste ließe sich weiterführen.
Dietrich: Gerade haben Sie von einer evangelischen Gemeinde erzählt. Die katholische Kirche ist de facto gespalten als Reaktion auf diese Situation. Das heißt, es gibt eine katholische Kirche, die sich dem Staat unterordnet, und es gibt eine katholische Kirche, die im Untergrund ist. Wie stellt sich die Situation für die Katholiken jetzt dar?
Dorloff: Die Situation ist im Prinzip ähnlich. Wir waren zum Beispiel in einem sehr abgelegenen Dorf in der chinesischen Provinz Hubei, das ist hier die Nachbarprovinz von Peking, rund 300 Kilometer entfernt von der Hauptstadt. Und der Ort für diesen Gottesdienst war ein einfacher Innenhof, als Dach diente eine grüne Zeltplane, im Hof stehen kleine Hocker und hinter dem provisorischen Altar hängt ein roter Vorhang. Da hat diese katholische Untergrundgemeinde ihre Messe gefeiert.
Sie sagen ganz richtig, die katholische christliche Kirche in der Volksrepublik ist ja im Prinzip gespalten: Da sind die sogenannten patriotischen Vereinigungen, die sich quasi der Kommunistischen Partei unterwerfen, und dann gibt es die, die das halt gerade nicht tun – da existieren Parallelwelten.
Verhandlungen mit dem Vatikan
Dietrich: Das scheint sich jetzt ja zu verändern, vielleicht ein bisschen aufzutauen zumindest. Papst Franziskus hat einen deutlichen Kurswechsel gemacht: Anders als seine Vorgänger hat der Vatikan immerhin einige von staatlicher chinesischer Seite aus bestimmte Bischöfe anerkannt. Das heißt, man redet wieder miteinander. Was bedeutet das denn für die katholische Kirche oder die katholischen Kirchen in China?
Dorloff: Es gibt den sogenannten China-Vatikan-Deal, das ist jetzt ein Jahr her, das war im September 2018. Seitdem erkennt der Vatikan sieben Bischöfe an, die in China ohne päpstliche Genehmigung geweiht worden sind. Der Umgang mit diesen Bischöfen war immer einer der zentralen Verhandlungspunkte zwischen dem Vatikan und China. Dieses Abkommen formuliert auch das Ziel, dass man künftig Bischöfe haben wird, die von beiden Seiten anerkannt sind, also vom Vatikan und auch von den chinesischen Autoritäten.
Ansonsten ist dieser China-Vatikan-Deal sehr wenig konkret, Kritiker sagen, es lässt viele Fragen offen. Er nennt sich auch bewusst ein provisorisches Abkommen, es wird aber halt nicht genau gesagt, für welchen Zeitraum das gilt und was genau provisorisch bedeutet.
Verrat an der Untergrundkirche?
Dietrich: Kann man denn schon Auswirkungen dieses Deals feststellen? Hat sich die Spaltung der katholischen Kirche verstärkt oder geht man da tatsächlich aufeinander zu?
Dorloff: Ja, es gibt zumindest Befürchtungen und auch Tendenzen, dass mit diesem neuen Abkommen die Spaltung nicht überwunden wird, sondern dass die Existenz der Untergrundkirche von der chinesischen Regierung einfach beendet wird, dass das Abkommen eher einem Verrat an diesen im Untergrund wirkenden Gemeinden gleichkommt.
Denn es stellt sich natürlich die Frage, was jetzt mit den Bischöfen der sogenannten Untergrundkirchen passiert. Das bleibt unklar, also müssen die jetzt eventuell sogar im Rahmen der patriotischen katholischen Vereinigung offiziell wiederernannt werden. Viele Untergrundkirchen waren und sind immer noch sehr enttäuscht, viele fürchten, jetzt erst recht vom chinesischen Staat an die Leine genommen zu werden, zerschlagen oder auch gleichgeschaltet zu werden – und dann im Rahmen einer Art Zwangsintegration in die staatlich kontrollierte katholische Kirche in China zu kommen.
Uiguren soll der Islam ausgetrieben werden
Dietrich: Nicht nur für Christen in China ist die Situation problematisch, auch – und vielleicht sogar noch dramatischer – für Muslime, vor allem für die, die zur Volksgruppe der Uiguren gehören. Wie haben Sie deren Situation erlebt?
Dorloff: Ich war eine Woche lang in der Nordwestregion Xinjiang, das ist eine Region, in der die zehn Millionen Uiguren leben, die es in China gibt, das ist ein muslimisches Turkvolk. Und denen wird die Religion systematisch und staatlich gesteuert, man könnte schon sagen: ausgetrieben. Nach dem Motto: Religion raus aus den Köpfen, die KP rein in die Köpfe. Es gibt politisch-religiöse Umerziehungslager, in denen nach Schätzungen von westlichen Regierungen und Menschenrechtsorganisationen bis zu 1,5 Millionen Menschen sitzen.
Viele Moscheen sind geschlossen worden, sind gar nicht mehr zugänglich, sind abgesperrt. Es ist auch gar nicht klar, welche religiösen Verhaltensweisen überhaupt noch erlaubt sind, sogar der Besitz eines Gebetsteppichs oder der eines Korans kann problematisch werden.
Offiziell begründet die chinesische Regierung das alles mit Terrorismusbekämpfung, man sagt also: Nur mit diesen scharfen Gesetzen können wir islamistischen Terror und religiösen Fundamentalismus und Separatismus in Xinjiang unter den Uiguren, aber auch unter anderen muslimischen Minderheiten – es gibt zum Beispiel auch kasachische Muslime –, nur so können wir das effektiv bekämpfen.
Besonders gefährlich: Islam plus Autonomiestreben
Dietrich: Trifft das denn wirklich nur die Uiguren oder haben alle Muslime in China solche Schwierigkeiten?
Dorloff: Es gibt welche, denen es nicht ganz so schlecht geht. Es gibt zum Beispiel die Hui, das ist auch eine muslimische Minderheit, die gelten traditionell eher als staatsnah. Das ist auch kein Turkvolk wie die Uiguren. Aber auch da hat es jetzt Zwischenfälle gegeben, wo Hui gegen die Schließung von Moscheen protestiert haben, wo es zu Auseinandersetzungen mit dem chinesischen Staat gekommen ist, das gab es vorher so nicht.
Aber grundsätzlich ist es so, dass das Streben nach mehr politischer Autonomie, separatistische Tendenzen - wenn das zusammenkommt mit dem muslimischen Glauben, dann ist es, zumindest aus Sicht der Chinesen, ganz besonders gefährlich.
Dietrich: Und dass, obwohl der Islam eben eigentlich als eine der erlaubten Religionen gilt?
Dorloff: Unter Xi Jinping, unter dem jetzigen Staats- und Parteichef, gibt es ganz gegensätzliche Tendenzen. Auf der einen Seite Unterstützung für die sogenannten traditionellen Religionen in China, also Buddhismus, Daoismus, auch Konfuzianismus wird in diesem Zusammenhang oft genannt, wenn es ja auch eigentlich keine Religion ist. Aber Präsident Xi sieht in diesen traditionellen Volksreligionen eine Säule der Gesellschaft und keine Gefahr für den Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei.
Xi hat zum Beispiel auch den Geburtsort von Konfuzius besucht und ihn dabei sehr lobend erwähnt, er hat bekannte buddhistische Führer aus Taiwan empfangen, er gilt deshalb bei den klassischen Volksreligionen als durchaus sehr beliebt. Aber alles, was in Richtung Christen oder Muslime ging, das ist unter ihm in den letzten fünf Jahren eher schlimmer geworden.
Islam und Christentum als Konkurrenz zum Kommunismus
Dietrich: Warum? Nimmt man diese Religionen als fremd, als von außen kommend wahr?
Dorloff: Ja, man nimmt es vor allen Dingen wahr als Gefahr für die Kommunistische Partei. Es ist immer so, sobald ein Legitimitätsanspruch der Kommunistischen Partei in Frage gestellt wird, sobald sich Dinge zu unabhängig in China generieren, dann wird es problematisch. Das ist im Buddhismus nicht so, das ist auch im Daoismus nicht so, da gibt es keine politischen Äußerungen, da gibt es auch keinen Papst irgendwo – und deshalb haben die muslimischen und die christlichen Gläubigen deutlich mehr Probleme.
Dietrich: Man weiß trotzdem ja, dass zumindest die Zahl der Christen in China steigt, trotz aller Repressalien. Hat der Untergrund trotzdem etwas Anziehendes, vielleicht als eine Alternative zum allumfassenden Staat?
Dorloff: Es gibt in den vergangenen Jahren einen Zulauf zu Kirchen, auch gerade zu Untergrundglaubensgemeinschaften in China. Es gibt Experten, die sagen, das sei eine Spätfolge der Kulturrevolution, die hat ja in den 60er-, 70er-Jahren die Religion in China, den traditionellen Glauben, die traditionellen Werte weitgehend zerstört.
Sehnsucht nach einem moralischen Kompass
Danach gab es dann fast 40 Jahre rasantes Wirtschaftswachstum, einen Kapitalismus, der ebenfalls viele Werte zerstört hat. Und das hat beides einen Nährboden für Religion in der chinesischen Gesellschaft geschaffen, eine Situation, in der manche davon reden, dass ein moralischer Kompass fehlt.
Es gibt viele Menschen, die fragen: Wofür steht China eigentlich, was hält unsere Gesellschaft zusammen, welche Werte haben wir? Also, da sind Bedürfnisse nach Identität, nach gesellschaftlichem Miteinander und eine allgemeine Verunsicherung der Menschen, die dann auch in Religion nach Antworten suchen. Und gerade diese volkseigenen Religionen wie Buddhismus und Daoismus, die werden jetzt als möglicher Kitt der Gesellschaft gesehen, deshalb auch teilweise gefördert – aber natürlich nur, solange sie sich nicht gegen die Staatsmacht, nicht gegen die Partei und die sozialistische Ideologie stellen.
Dietrich: Ganz herzlichen Dank!
Dorloff: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.