Die Naivität des Westens
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Twitter sperrt chinesische Propaganda, Zoom sperrt chinesische Menschenrechtler. So unterschiedlich verhalten sich Tech-Konzerne gegenüber Peking. Die dortige Regierung wolle die westliche Wahrnehmung ändern, sagt Journalist Marcel Grzanna.
Es ist eine bekannte Diskussion, die sich bei globalen Internetkonzernen immer wieder stellt: Wie umgehen mit Diktaturen? Twitter und Zoom haben heute entgegengesetzte Maßnahmen getroffen. Der Kurznachrichtendienst hat mehr als 170.000 Konten entfernt, die Falschinformationen und Propaganda im Interesse der chinesischen Regierung verbreitet haben. Zoom hat indes Videotreffen von chinesischen Menschenrechtsaktivisten blockiert.
Für Werte einstehen
Ihn habe weder die Lösung von Twitter noch die Kooperation von Zoom überrascht, sagt der Marcel Grzanna. Peking setze derart auf Kontrolle, um die Macht der regierenden Kommunistischen Partei zu sichern, ist der Journalist und Chinakenner überzeugt:
Chinas Ziel sei es, "dass in unseren demokratischen Staaten die Wahrnehmung zwischen Diktatur und Demokratie verschwimmt. Wenn wir an diesem Punkt angelangt sind, laufen wir natürlich Gefahr, dass Standards und Werte, die wir als demokratische Staaten gelernt haben - und die wir eigentlich verbreiten wollen - , nicht mehr unterscheiden können von dem, was aus autoritären Staaten auf uns einprasselt."
Es gehe nicht um kulturelle Fragen, unterstreicht Grzanna, sondern "um die knallharte Differenz zwischen Autokratie und Demokratie". Er habe lange genug in China gelebt, "um zu wissen, dass das nicht das ist, was wir wollen", so der Journalist, dessen Buch "Eine Gesellschaft in Unfreiheit: Ein Insiderbericht aus China, dem größten Überwachungsstaat" im Mai erschienen ist.
Die Wahrnehmung werde verzerrt
Die chinesische Propaganda im Ausland funktioniere sehr gut, weiß Grzanna zu berichten. Diese sei subtil, indem Meinungen in Diskussionen eingebracht würden, um die Wahrnehmung zu verzerren. Dies sei unter anderem in der Coronakrise geschehen, als die chinesischen Auslandsvertretungen versucht hätten, das Narrativ zu beeinflussen. Beispielsweise wurde verbreitet, dass nicht genau bekannt sei, wo der Virus seinen Ursprung habe, erläutert der Chinakenner. Außerdem habe Peking seine Hilfe an andere Länder im Zuge der Pandemie "gefeiert wie den Heiligen Gral".
Zwar habe die Europäische Union im Jahr 2014 damit begonnen, "sich um Nachrichten aus Russland zu kümmern", erläutert Grzanna. Doch erst im vergangenen Jahr habe man sich auch denen aus Peking zugewandt. "Das zeigt, wie naiv wir viele Jahre mit der Propaganda umgegangen sind, die China in den Westen schießt."
Der Westen ist gefragt
"Bemerkenswert" und "faszinierend" sei der Fortschritt der Überwachung in China, so Grzanna - "wenn es nicht so schauderhaft wäre". Viele Ressourcen seien dafür eingesetzt worden; dadurch sei es kaum noch möglich, sich in dem Land frei zu bewegen. Dies sei auch ein Resultat der Verknüpfung der Digitalisierung mit dem Alltag - "und dadurch mit der Regierung", erläutert der Journalist. China schöpfe diesbezüglich alle Möglichkeiten aus.
Grzanne rechnet eher nicht mit Widerstand in China gegen die Überwachung. Vielleicht könnte aber die Protestbewegung in Hongkong ein Signal für mehr Freiheit in den Rest des Landes senden. Nun komme es auf den Westen an, dass dieser zu seinen Werten stehe - und dafür auch gegenüber China einstehe.
(rzr)